Lebensgeschichten


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Sturm (Niederstraße), Ölfarbe auf Pappe, 44 x 73 cm, 2010

Martin Schiffel (*1966): Sturm (Niederstraße), 2010
Ölfarbe auf Pappe, 44 x 73 cm

 

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Kiew, Mykolajiw, Tschernihiw, Mariupol, Slowjansk, Charkiw: Wir sind in Gedanken bei euch!

 

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Der beschwerliche Weg ins Licht

Ich wurde 1961 geboren, meine Familie väterlicherseits stammt aus Schlesien, die Familie meiner Mutter aus dem Sudetenland. Über den Krieg wurde bei uns eigentlich nie gesprochen, alles wurde sozusagen totgeschwiegen. Meinen Großvater väterlicherseits lernte ich nie kennen, er kam nicht aus dem Krieg zurück. Meine Oma erzählte manchmal Geschichten, z. B. dass mein Vater, 1940 geboren, im Luftschutzkeller schlief wie ein Engel, während draußen die Bomben einschlugen. Sein Bruder, 11 Jahre älter, war begeisterter Anhänger der Hitler-Jugend, darüber wurde auch niemals gesprochen, ich hörte nur einmal so etwas aus den Erzählungen heraus.

Meine Oma hatte es schwer, sie musste ihre beiden Söhne alleine großziehen unter enormen Entbehrungen. Manchmal, wenn ein Flugzeug über uns flog, sagte sie „das ist ein schwerer Bomber“. Ich wusste als kleines Kind nicht, was das bedeuten sollte, aber es machte mir Angst. Mein Vater hatte zeitlebens Depressionen und verfiel immer mehr dem Alkohol, was ihn schließlich mit 56 Jahren ins Grab brachte. Er schien niemals wirklich glücklich gewesen zu sein, nur im Rausch hob sich die dunkle Decke, die immer über ihm lag. Er benutzte auch immer wieder falsche Namen, wollte seine Identität vor vielen Leuten verschleiern – ein solches Verhalten findet sich auch bei mir. Ich vertraue so gut wie Niemandem und möchte nicht, dass die Leute allzu viel über mich wissen.

Meine Mutter hatte es besser getroffen, sie bekam vom Krieg nicht so viel mit. Während meine Oma mit ihren beiden Söhnen in einem offenen Viehwaggon flüchtete, konnte die Familie meiner Mutter in einem normalen Zug flüchten. Auch war ihre Familie nie so arm, mein Opa mütterlicherseits war auch nie im Krieg.

Ich fragte mich immer, warum ich kein Heimatgefühl habe, mich irgendwie nirgendwo richtig zugehörig fühle. Erst in den letzten Jahren nach dem Umzug in ein anderes Bundesland hat sich das etwas geändert. Ich wollte auch nie sesshaft sein, träumte von einem Leben im Wohnwagen. Ich wollte frei sein, keine Verpflichtungen haben, mich an nichts binden.

Bei uns daheim ging es sehr streng zu, meines Vaters Wort war Gesetz, keiner durfte sich dem widersetzen. Er bestimmte über alle, auch über seine eigene Mutter, die bei uns lebte. Es gab oft Streit und Theater, verbunden mit Alkohol und auch Gewalt. Ich konnte meinem Vater nie etwas recht machen, nichts war gut genug. Er erstickte jedes kleine bisschen Selbstbewusstsein im Keim bei mir, sodass ich immer schüchtern und zurückhaltend war. Wenn ich etwas falsch gemacht hatte als Kind, dann bestrafte er mich mit Schweigen und Nichtbeachtung. Er gab mir auch manchmal die Schuld für seine Krankheiten, weil ich ihn zu sehr ärgern würde. Er verzieh mir niemals, dass ich in die Pubertät kam, von da an mochte er mich gar nicht mehr, ich hätte sein kleines Mädchen für immer bleiben sollen. Ich fragte mich oft, warum das so war, konnte es leider niemals ergründen. Aber in mir blieb immer ein Gefühl der Unzulänglichkeit, des nicht Genügens. Ich entwickelte dann Essstörungen, das gab mir ein Gefühl der Kontrolle. Meine Mutter hatte auch viel zu leiden, unter anderem war mein Vater extrem eifersüchtig (völlig ohne Grund) und machte öfter Szenen.

Meine Kindheit war geprägt von diffuser Angst, die Stimmung im Haus war meistens bedrückt. Sobald mein Vater nach Hause kam, musste sich alles um ihn drehen, ich habe das nie verstanden. Mein Onkel, zu dem ich ein gutes Verhältnis hatte, war anders, er sagte oft, dass sein Bruder seltsame Ansichten hätte, auch in Bezug auf meine Erziehung, leider ließ sich mein Vater von Niemandem etwas sagen. Heute geht es mir gut, ich habe meinen Platz im Leben gefunden. Aber der Weg dahin war lang und steinig.

K. E., im Dezember 2022

 

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Der lange Weg ins eigene Leben

Ich bin 1961 geboren. Die Familie meines Vaters kommt aus Schlesien, die meiner Mutter aus Norddeutschland, wo ich aufgewachsen bin. Meine Schwester und ich haben uns in unserer großen Verwandtschaft immer als Außenseiter gefühlt, obwohl alle nett zu uns waren. Wir konnten uns das nicht erklären. Als Familie lebten wir sehr zurückgezogen. Wir Kinder sollten es einmal besser haben und irgendwie ging es uns ja auch ganz gut, aber das Leben fühlte sich zu Hause lauwarm an. Nach meiner Ausbildung war ich viel in der Welt unterwegs. Trotzdem habe ich mich immer sehr für meine Eltern verantwortlich gefühlt und bin viel nach Hause gefahren. Das brachte mich oft in innere Konflikte, denn eigentlich wollte ich auch meine Freunde dort sehen, aber meine Eltern hatten für mich immer Vorrang.

Unnormal ist mein Interesse am Zweiten Weltkrieg, bei Berichten darüber bin ich wie gefesselt. Mit meiner Tante, der Schwester meines verstorbenen Vaters, bin ich seit einiger Zeit intensiv in Kontakt und so dankbar dafür. Sie hat ein sehr gutes Gedächtnis und erzählt viel. Mein Vater wollte nie über den Krieg und seine spätere Gefangenschaft reden, obwohl ich ihn als Kind immer wieder danach gefragt habe. Er wollte mich damit nicht belasten.

Über meinen im Krieg verstorbenen Großvater wurde nie gesprochen. Nun erfahre ich, dass er nach dem Einmarsch der Russen in sein Dorf mit anderen älteren Zivilisten in ein Arbeitslager in den Kaukasus verschleppt wurde. Dort ist er schnell verhungert. Er hat Hitler gehasst, war überzeugter Kommunist und hat seine Abneigung gegen Hitler offen gezeigt. Deshalb wurde er zunehmend bedroht und meine Tante sagt, dass sie und ihre Mutter deshalb oft vor Angst geweint haben. Dann kamen die Russen, auf die hatte er sich gefreut – und dann nehmen sie ihn mit und sperren ihn ein. Wie muss er sich gefühlt haben? Derzeit suche ich noch nach seinem Grab, hab Hinweise vom Internationalen Roten Kreuz und forsche weiter. Ich beweine ihn.

Meine Großmutter und meine Tante sind wie viele andere geflüchtet. Unterwegs mussten sie bis Kriegsende Zwangsarbeit bei den Russen leisten. Alles, was aus leerstehenden Häusern und Fabriken herausgeholt werden konnte, luden sie auf Züge, die nach Russland fuhren. Während dieser Zeit, so erinnert sich meine Tante, sind auch ständig Züge aus Russland Richtung Westen durchgefahren. Darauf halb verhungerte Soldaten, denen haben sie das wenige, was sie selbst zum Essen hatten, aus Mitleid zugeworfen. Meist waren es runzelige Rüben. Ich beweine die Soldaten.

Als der Krieg zu Ende war, sind Oma und Tante zurück in ihr Heimatdorf. Dort wollten sie gerade anfangen, Gemüse anzubauen, damit sie was zu essen haben, als eines morgens polnische Soldaten vorbeikommen und sagen, das ist jetzt ihr Land, sie müssen verschwinden. Meine Großmutter, meine Tante und ihre Cousine mit einem kleinen Säugling, die nebenan wohnte, hatten nur wenig Zeit, ein paar Sachen zusammenzuraufen. Dann sind sie los ohne erst einmal zu wissen wohin. Unterwegs durften sie manchmal in Ställen schlafen, übernachteten aber oft im Freien. Dann wollten sie zur Schwester meiner Oma, kamen dort nach Wochen ausgehungert an. Wurden erstmal aufgepäppelt, dann fing das Schikanieren an. Meine Oma ist später über Kontakte „rüber in den Westen“, meine Tante, die etwas länger noch in Ost-Berlin wohnte, kam illegal nach.
Später auch mein Vater. Jetzt verstehe ich auch, warum er lange Zeit seine DDR-Verwandtschaft nicht besucht hat. Er war Republikflüchtling, hatte Angst, dass man ihn nach Bautzen bringt. All das wusste ich nicht. Im Westen wurden die Ostler alle beäugt, waren nicht gerne gesehen, Flüchtlinge nahmen nur das wenige Essen weg. Es muss schwer gewesen sein.

Mein Vater wurde mit 17 Jahren eingezogen, kämpfte an der Ostfront, überlebte das Gemetzel der Kesselschlacht von Witebsk als einer der wenigen und kam dann für 4 Jahre in russische Gefangenschaft. Er schuftete in einem Steinbruch im Kaukasus und hat viel Hunger, Entbehrung, Kälte und Tod erlebt. Um zu überleben hat er manchmal für eine Extraportion Essen bei Massengrab-Arbeiten mitgeholfen, wie ich jetzt erfahre. Was muss er zeitlebens für Bilder in seinem Kopf gehabt haben, was hat er nur durchgemacht dieser junge Mensch. Es schmerzt mich unendlich, nicht enden wollende Tränenbäche.

Seine Rückkehr aus der Gefangenschaft war für Alle eine große Freude, aber gleichzeitig auch Erschütterung, denn er war sehr ausgemergelt und traumatisiert. In der ersten Zeit aß er wie ein wildes Tier, vor allem Brot, erzählt meine Tante. Noch Jahrzehnte später wurde er sehr unruhig, wenn er nur noch einen halben Brotlaib zu Hause hatte. Bei einem späteren Kuraufenthalt sagte ein Arzt zu ihm, er hätte noch nie einen Menschen mit so viel unterdrückter Wut und Aggression erlebt. Davon haben wir nichts gemerkt, nur wenn im Haus irgendetwas kaputtging, verlor mein Vater die Fassung. Nach den etwas größeren Wutausbrüchen darüber hat er sich zunächst völlig zurückgezogen. Er war wohl erschrocken, was an Gefühlen in ihm steckt, was alles in ihm hochkam. Meine Mutter hat sehr darunter gelitten. Ich - das kleine Mädchen - war die einzige, die ihn durch Zuspruch immer wieder zurückholen konnte. Was für eine Aufgabe, aber ich kann mich nicht daran erinnern, dass ich es sehr belastend fand. Aber ich war ein ernsthaftes Kind und habe zu dieser Zeit ein sehr feines Gespür für Stimmungen entwickelt. Ansonsten war mein Vater ein herzensguter Mensch, sehr sensibel und kinderlieb. Ach, dieser verdammte Krieg hat seiner Seele so geschadet. Wieviel Kraft hat es ihn gekostet, um funktionieren zu können. Niemand sprach damals von Traumatisierungen oder hat Hilfe angeboten. Mein Vater tut mir furchtbar leid. Wieder Tränen.

Ich bin in meinem Leben überwiegend glücklich und zufrieden. Aber ich habe ein Grundgefühl von Heimatlosigkeit, obwohl ich seit über 30 Jahren an einem Ort wohne. Es schwingt in meinem Leben auch ständig Angst mit, die ich eigentlich gar nicht richtig benennen kann. Seitdem ich denken kann, versuche ich mich grundsätzlich in allen Bereichen des Lebens an so wenig wie möglich zu binden, damit ich auch nicht so viel verliere, wenn etwas Schlimmes passiert. Wenigstens habe ich schon vor vielen Jahren erkannt, dass es auch meine Freundschaften betrifft. Ich habe hart daran gearbeitet, mich hier zu öffnen und Nähe zuzulassen. Ich habe einen Überlebenskoffer für den Fall der Fälle (schon als kleines Kind saß ich bei Gewitter mit meinem gepackten Köfferchen bereit zum sofortigen Aufbruch) und in wiederkehrenden Träumen versuche ich immer zu flüchten, schaffe es aber meist nicht, weil ich vor lauter Chaos und Durcheinander einfach nicht loskomme. All das hat mit dem Krieg zu tun, wie ich jetzt weiß.

Seit nunmehr zwei Jahren beschäftige ich mich intensiv mit alldem, es ist anstrengend und hat mich manches Mal auch an den Rand meiner Kräfte gebracht. Immer noch ist viel im Dunkeln, aber ich spüre und erkenne mehr und mehr, dass vieles von dem, was mich umtreibt, gar nicht meins ist. Manchmal versinke ich noch in tiefe Trauer und Schmerz und derweil rollen die Tränen weiter und weiter. Ein nicht enden wollender Fluss, unglaublich. Ich lasse es fließen. Es ist mir egal was andere denken. Jetzt ist die Zeit gekommen, den Boden damit zu düngen. Mein Leben zieht gerade an mir vorbei, ist mir auch egal. Ich muss jetzt nicht funktionieren und bin meinem Mann unglaublich dankbar dafür, dass er sich um alles andere kümmert. Ich fühle nur den Auftrag, Licht ins Dunkel zu bringen. Derzeit schreibe ich gemeinsam mit meiner Tante an einem kleinen Familienbüchlein. Absolut nichts ist derzeit wichtiger. Ich fühle mich gesegnet.

Aber leicht ist dieser Weg nicht. Wie gut, dass ich vorher nicht wusste, was mich erwartet, denn sonst wäre ich ihn vermutlich nicht gegangen. Manchmal bin ich stark und mutig, dann wieder schwach und wund, manchmal erkenne ich mich selbst nicht wieder. Ich bewundere alle meine Ahnen für ihre Kraft und ihren Mut, aber ich betrauere auch immer noch sehr ihr Leid und überhaupt das all der Menschen, die in diesen verdammten Kriegszeiten so sehr gelitten haben - und jetzt schon wieder leiden. Wird die Menschheit jemals aus der Geschichte lernen?

Gundula, Herbst 2022 (aktualisierte Version der Geschichte aus 2021)

 

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Schreiben hilft!

Wann immer ich es mir einrichten kann, verbringe ich Zeit an der Ostsee. Ich bin am Strand und denke: „im Atmen der Wellen, da atmet die Welt und ich atme mit ihr“. Nirgends fühle ich mich so verbunden mit der Natur und mit dem gesamten Kosmos. Die Spaziergänge haben etwas meditatives, ich tagträume und manchmal schreibe ich zuhause dann meine Gedanken auf und spinne Geschichten. Schreiben hilft. Es befreit und es stimmt mich zuversichtlich, und wenn ich mein Geschriebenes dann mit anderen teile, bekommen auch die schweren Geschichten eine gewisse Leichtigkeit und – es macht Freude.

Oft, wenn ich am Meer bin und in die Ferne schaue, denke ich daran, dass – woanders - Frauen und Männer und Kinder in kleinen Booten auf dem Wasser treiben und dass Tote an Land gespült werden, an einem anderen Strand, in einem anderen Land, während ich hier spaziere. Mein Bauch wird hart und ich fühle mich unwohl. Als ob es mir nicht zusteht, wenn ich mich gesund und frei und glücklich fühle. Und wenn es stürmt und der Regen in mein Gesicht klatscht – ich weiß, es ist bald vorbei - gleich bin ich zuhause - in der warmen Stube, ein Glück, das andere nicht haben.

Im März 2022, ist es anders als sonst. Ich sitze mit einer Freundin auf der Terrasse der Strandbar. Sie ist noch nicht in Betrieb aber die Strandkörbe stehen bereit. „Was würdest du tun, wenn heute dein letzter Tag wäre?“ fragen wir uns gegenseitig. Seit zwei Wochen ist Krieg in Europa und für mich so nah, wie noch nie. Ich denke, es könnte ein Kriegsschiff sein, das da kreuzt aber erkennen kann ich es nicht. Ich weiß, in der Nähe ist ein Marinestützpunkt. Das Schiff kommt näher und dann dreht es ab. Ich höre die Hubschrauber, denke, dass ich oder der Ort, an dem ich mich aufhalte, überwacht wird. Die Grenze zu Polen ist nur wenige Kilometer entfernt, und dahinter ist Krieg, und wer weiß, was passiert ist, in den wenigen Stunden, die ich unterwegs war. Die Bilder der Zerstörung in meinem Kopf lassen keinen Raum für die Hoffnung auf Frieden. Ich bin wie gelähmt. Zuhause lege ich mich auf die Couch und es dauert nur wenige Minuten, bis ich eingeschlafen bin. Wach werde ich als das Kreischen einer Sirene, schrill und laut durch meinen Körper fährt. Vom Kopf aus, blitzschnell, zuckt es mir durch „Mark und Bein“. Mein Körper fällt für eine Sekunde auseinander und findet sich genauso schnell wieder zusammen. Der Kopf ist zuerst wieder da. Wo bin ich? Wo ist der nächste Keller? Was muss ich jetzt tun? Was nehme ich mit?

„Probealarm“ höre ich meine Großmutter sagen. Meine Großmutter nimmt mich in den Arm und wiederholt: „es ist nur ein Probealarm“. Ich schaue in das Gesicht meiner Oma, erkenne die Angst und den Schrecken und beobachte wie er sich langsam verzieht. Aufatmen. Ihre Augen lächeln als sie mich ein klein wenig fester an sich drückt. Das war in den 1960-ern und heute frage ich mich, ob sie sich damit selbst beruhigen wollte oder mich. Ich bin aufgewachsen in einem kleinen Dorf in der Nähe der sogenannten Zonengrenze. Ich hatte keine Vorstellung davon, was das für Böller sind, die vom Truppenübungsplatz her in meine kleine Welt hinein donnerten. Keine Ahnung was da geübt wird, wenige Kilometer weiter, hinter dem Wald. Ich war ein Kind, wollte spielen und später wollte ich weg, hinaus in die Welt.

Ich war schon in den 30-ern als ich mich fragte – oder wurde ich gefragt? „Wann willst du denn endlich einmal irgendwo ankommen? Ist es nicht an der Zeit, endlich sesshaft zu werden?“ Der Zweifel wohnte in mir: Ist es in Ordnung, wenn ich so lebe, wie ich lebe? Bin ICH denn in Ordnung, wenn ich so bin wie ich bin und wenn ich mich immer so einrichte, dass ich leicht wieder weg komme? Darf ich mich wohlfühlen, wenn ich mit leichtem Gepäck unterwegs bin im Leben, frei und beweglich? Mein Leben und ich entsprachen nicht der Norm, und genau das hatte ich doch immer gewollt.

Zu dieser Zeit hatte ich das Schreiben und die Biografiearbeit entdeckt und mir bis heute bewahrt. Immer, wenn eine Frage oder ein Thema mich triggert, fange ich an und beginne zu schreibspielen.

„Heimat“ ist so ein Wort, ein Begriff, der mich damals umtrieb. Und ich sammelte Wörter, die mir einfielen, wenn ich an Heimat dachte. Daraus wählte ich fünf Begriffe aus, die ich dann in einem 9-Zeilen-Gedicht wieder auftauchen ließ.

Eines dieser Gedichte habe ich bis heute im Ohr.

Heimat
habe ich
im Dorf nicht
gefunden. Nur Kälte bei
Euch. Auf der Suche nach
Liebe kamst Du, meine
Freundin. Freiheit ist
Heimat für
Uns.

Noch schöner ist es, wenn diese Schreibspiele zu zweit oder in einer Gruppe gemacht werden. Dann finden sich Gemeinsamkeiten und Unterschiede, es öffnen sich völlig neue Perspektiven und Entwicklung findet statt.

Schreiben hilft.

Manchmal mogele ich ein wenig, wenn ich Texte öffentlich mache. Im Heimatgedicht habe ich ein Wort ausgetauscht. Die private Fassung war wie eine Liebeserklärung an eine Person, die ich in der Öffentlichkeit nicht zeigen möchte.

In den letzten Jahren beobachte ich mich, wie ich balanciere, in der Frage, wann ich für lebenswichtigen Schutz und Sicherheit sorge und wann ich verharre, in meinem Versteck und mich am Leben behindernde.

Es ist schon verrückt, dieses Verstecken. Ist es ein Muster, das ich übernommen habe? Für meine Mutter mag es überlebenswichtig gewesen sein, damals als sie ein Kind war, damals im Krieg, damals auf der Flucht. Hat sie es mir beigebracht? Ganz subtil oder bewusst, aufgrund ihrer Erfahrung und um mich zu schützen? Verstecken macht einsam. Und es ist völlig verrückt. So lange saß ich in meinem Versteck und wünschte mir so sehr, dass ich wirklich gesehen werde.
Ich beschließe meine Mutter anzurufen. Wenn mich das aktuelle Kriegsgeschehen so triggert, wie muss es ihr dann erst gehen? Zu meiner großen Überraschung ist sie völlig im Hier und Jetzt, zufrieden in ihrer kleinen Welt. Ich muss mir um sie keine Sorgen machen.

An dieser Stelle passt ein weiteres Gedicht, es ist 2014 entstanden und es hat sogar eine Überschrift.

Gebet einer Kriegsenkelin

Mutter unser,
Dein Erbe wiegt schwer.
Ich kann es nicht tragen, ich will es nicht mehr.
Dein Leid sei gewürdigt, Dein Schweigen verzieh‘n.
Vergiftete Liebe, sie ließ mich gefrier‘n.
Ich hab‘s überlebt, meinen Kummer und Schmerz.
Und jetzt will ich leben und lieben und seh‘n.
Ich gebe zurück Dir was mir nicht gehört,
ich kann Dich nicht heilen so gern ich es tät.
Mein Glück will ich halten und achten auf mich.
In Frieden mit mir sein, nur das möchte ich.
Atmen.

Schreiben hilft und ich hätte Lust auf ein Schreibwochenende mit Kriegsenkeln und vielleicht auch mit den Kindern der Kriegsenkelgeneration. Spuren suchen, Spuren finden, Spuren legen und Spuren hinterlassen.

M. R. im Mai 2022

 

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Krieg

Wieder ist Krieg und ich mittendrin und

in den alten Geschichten und

wieder ist Krieg.

Seit ich vor 10 Jahren das erste Mal auf der Seite der Lebensgeschichten war und seit dem immer mal wieder etwas von mir mit Euch geteilt habe, hatte ich den Eindruck, mich weiter und weiter von der Last entfernt und das Alte hinter mir gelassen zu haben. Doch jetzt ist wieder Krieg und ich reagiere wie früher; schwere Bauchschmerzen, Notaufnahme, Autoagressionen. Ist die Haut, die ich über all die Narben hatte wachsen lassen, doch nur so dünn, dass sie gleich wieder aufbricht, wenn das Undenkbare und Unfassbare in mittelbarer Nachbarschaft erneut aufflammt? Ja, es ist wohl leider so. Die Haut ist dünn und leicht verletzlich. Vielleicht tröstete es mich ja, wenn ich mir eingestände, dass der neuerliche Krieg und die neuerlichen Lügengeschichten zu seiner Rechtfertigung bei mir zu einer Re-traumatisierung geführt haben. Dann könnte ich auch besser verstehen, warum ich so reagiere, wie nach der Traumatisierung als Kind von Kriegskindern.

Am besten ginge es mir aber, wenn ich zugäbe, dass mich das alles einfach überfordert. Die Nachrichten, die Kommentare und die Bilder, die ich mir gar nicht erst ansehe. Und doch zieht es mich, wie damals schon mit 13 Jahren, als ich mir die ersten Landser Hefte kaufte und mir so den Krieg in mein Kinderzimmer brachte, immer wieder in den Bann. Sind die Geschichten von damals nicht auch die Geschichten von heute? Ist das Schwadronieren über Entnazifizierung und Befreiung des Brudervolkes nicht das gleiche, wie Anno 1943 in der Sportpalastrede über den totalen Krieg? Ja, es ist das Gleiche! Und damit bin ich auch schon mitten drin! Scheiße noch mal!

Ich habe mir eine fünftägige Nachrichtensperre auferlegt. Das tat richtig gut. Hier ist ja Frieden und die Sonne scheint! Aber dann doch wieder der Bann des Bösen! Ich will da endlich raus! Ja, manchmal gelingt es mir, die Erregungskurve nicht so hoch ausschlagen zu lassen und mich selbst zu beruhigen. Ja, und manchmal gelingt es mir auch, alles auf Abstand zu bringen. Und dann nehme ich Erleichterung wahr. Und Entkrampfung. Und dann bin ich hier und in diesem Augenblick und hier ist kein Krieg und hier darf ich sein, einfach nur so.

Das hat zwar keinen Sinn und hat auch keinen Zweck. Das ist nur ein Moment, der ohne Lügen, den Kreislauf dieser Welt zum Stehen brachte. Wir können zwanglos über uns verfügen. Und da ist nichts, was uns beschränkte und bewachte. Und da ist nichts mehr, was uns uns verbot. Wir schneiden die Verbote einfach ab. Die Zeigefinger unserer Väter und die Atemnot und alles das, wofür man uns erzogen hat.“ (nach Konstantin Wecker „Zwischenräume“)

Ja, ich gehe einfach milder mit mir um, erlaube mir, mich lieb zu haben. Und ich sehe ein, dass das Kriegsenkelsein zu mir gehört und ein Teil meiner Selbst ist. Dann geht es schon besser und ich stehe dem Ganzen nicht mehr so ohnmächtig gegenüber, so re-traumatisiert. Dann bin ich handlungsfähiger und selbstwirksamer und vielleicht auch wieder hoffungsvoll und lebensfroh. Jedenfalls wünschte ich mir das so sehr.

Stefan Groeger, Weimar, 19. März 2022

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Mit der Kerze in Ruinen

Ich bin ein typisches Nebelkind. Ich komme erst jetzt so langsam heraus und leide darunter, Licht in die Dunkelheit bringen zu müssen, fühle mich davon eigentlich komplett überfordert. Wäre es nicht leichter, die Dunkelheit zu lassen statt mit dem Licht in jede Ecke leuchten zu müssen? Ich habe den Eindruck, ich bin mit dieser Mission zur Welt gekommen. Die Ruinen meiner Heimatstadt Dresden haben mich begleitet bis ich 20 war und in meinen Träumen. Zuverlässig immer kamen mir bittere Tränen des tiefen Verlustes, wenn ich Bilder oder Berichte der Zerstörung meiner Stadt sah oder las. Sie trafen auf einen riesigen Resonanzboden in mir. Keine Rettung weit und breit, selbst retten war seit jeher die Devise. Was es mir heute sehr schwer macht, mich selbst zu retten, weil ich dahinter immer die gewaltige Überforderung spüre. Der Krieg war etwas so großes, das war nicht durch ein kleines Mädchen heilbar. Gesellschaftlich wurde unsere Generation haftbar gemacht und musste – mit einem ewigen dicken Imperativ – gefälligst glücklich und erfolgreich werden. Meine Mutter war ansprechbar und emotional, aber vor allem hinsichtlich ihrer eigenen Verluste. Mein Vater war so wie alle anderen Männer – nicht da. Keine Präsenz. Obwohl er lebte, in unserer Nähe. Weg, das war das Profil meines Vaters. Liebevoll und nicht zuständig.

Sein Vater war 1945 im Krieg umgekommen, an Wundbrand gestorben, nachdem der Lazarettzug, den er begleitete, angegriffen wurde. So war die einzige Info die ich jemals dazu bekam. Seine Frau war fast genau so alt und schwanger, mein Vater war wohl in einem Heimaturlaub entstanden. Ihre Angst und ihre Trauer, als ihr Mann nicht wiederkam, die Angst und Überforderung mit zwei Kindern weiterzumachen, spüre ich heute noch. Vaters Schwester war fast 17 Jahre älter und eher die Komutter. Aber er, er war der Junge, der geliebt wurde aber nie den Vater auch nur annähernd hatte ersetzen können. Diese Trauer blieb und ich glaube, sie blieb unausgesprochen. Noch heute kommen ihm die Tränen und er hat einen Kloß im Hals, wenn er von seinem Vater spricht, den er nie kennengelernt hat. Dass er uns beide, meine Schwester und mich, anders als sein Vater bewusst hat sitzen lassen und damit tief verletzt hat, ist ihm nicht bewusst. Gezählt hat nur Mutters Trauer, wir haben funktioniert. Beide. Er hat uns bis heute nie gefragt, wie wir das erlebt haben, wie es uns ging damit. Nie. Und das wird er auch nicht mehr.

Meine Mutter hat als 1,5 Jährige den Bombenangriff auf Dresden erlebt. Jahrzehnte später hat sie oft mit Panik reagiert, als würde ihr wieder alles über dem Kopf zusammenstürzen. Kein Dach mehr, keinen Schutz. In einer Sitzung bei einer Heilerin habe ich statt ihrer den Kopf aus den Ruinen gesteckt und über all dem Staub und Rauch die helle, viel zu grelle Sonne gesehen. Es war ein so deutliches Bild, dass ich hätte schwören können, es war real. Das war mein Auftrag, seit ich geboren bin. Eigentlich der Auftrag meiner Generation: Lebe und hol uns die Sonne zurück.

Der Vater meiner Mutter war ein anerkanntes Opfer der Nazis und ein Rhinozeros. Er wurde verhaftet von der Gestapo als junger Mann und musste als junger Vater nach Rhodos im Strafbatallion 999, wo lauter missliebige Leute reingesteckt wurden, dem Verderben anheimgestellt. Er widmete sich nach Kriegsende dem Aufbau des Sozialismus, wurde fälschlicherweise der Sabotage angeklagt und saß 1,5 Jahre in Bautzen, hielt aber dem System die Treue. Meine Oma musste allein klarkommen. Sie war eine einfache Frau vom Land und nicht dumm aber mit wenig Perspektive und einer engen Weltsicht großgeworden. Er dachte wohl, er könne sie beeinflussen aber hatte nicht mit ihrem Sturschädel gerechnet. In familiärer Hinsicht war mein Opa eine totale Null. Seine einzige Tochter – meine Mutter – hat er nie verstehen wollen und sich hinter seinen Folgefrauen versteckt. Er hat seine Tochter im Grunde verraten. Für uns war er auch nie da, es waren immer Staatsbesuche bei ihm. Ich mochte ihn früher aber später habe ich das deutlicher gesehen.
Wenn ich meine Oma fragte nach ihren Erlebnissen – ohja, ich habe gefragt, immer schon – dann kam oft der Satz: wenn der Opa nicht gewesen wäre……………… Ja was dann? Damals beim Bombeninferno? Was hatte das zu bedeuten? Er war vorher vier Tage in Buchenwald und kam dann frei, warum kam er frei? Vier Tage als Sozialist????????? Seltsam. Er meinte nur einmal, da hätte ihm jemand wohl geholfen. Mehr war nicht herauszubekommen. Also war er beim Angriff zu Hause und hat wohl seine Frau und sein Kind ausgebuddelt. Wenn er nicht gewesen wäre………….. Dann wären sie gestorben? Wahrscheinlich und ich gehe davon aus, es ist wahr. Also blieb hängen: Männer bleiben nie da, aber ohne Mann bist Du verloren, Du und Deine Brut. Meine Mutter lebt seit 35 Jahren allein. Meine Schwester versucht jeden Mann zum Bleiben zu erziehen und festzutackern. Ich selber entziehe mich und verliebe mich in Männer, die nicht da, nicht präsent sind. Meine Kinder bekam ich mit einem Mann, der übergriffig war und überpräsent. Beide Schwangerschaften lehnte er zutiefst ab, ich habe für beide Kinder kämpfen müssen, für ihre schiere Existenz.

Vor einem halben Jahr, als der letzte Mann mich verließ nach kurzer leidenschaftlicher Zeit, kam die Panik mit voller Wucht. Seitdem hänge ich sehenden Auges in einer Depression drin, wie alles habe ich trotzdem auch jetzt alles im Griff, die Arbeit, den Haushalt, die Freundschaften, meine Kinder - nur mich nicht. Gar nicht. Meine Seele rebelliert und lässt nicht mit sich handeln. Sie interessiert sich nicht für motivierende Worte und Taten, sie will aufatmen. Gesehen werden, das ist ein tiefsitzendes und nie wirklich befriedetes Bedürfnis von mir, gesehen werden und NICHT bewertet, für zu wenig befunden. Als Kind lebte ich zeitweise in einer Blase, ich habe mühsam meine Welt aufrecht erhalten. Alles Elend der Welt fand den Weg in mein Herz. Es gab immer die beiden: die lustige frohe Frau, lebensstark und zukunftsorientiert. Und die rückwärtsgewandte, die trauerte und sich verbarg vor der Sonne. Aus der Dunkelheit der Kriegseltern und – kinder zu treten wäre einem Verrat an ihrem Leiden gleichgekommen.

Ich habe alles von Beginn an körperlich ausgedrückt, was in der Seele schieflag. Mir ist in der Jugend wenig Frauenbrust gewachsen, weil ich Weiblichkeit mit Schwäche verband. Mit Liegenbleiben und verschüttet sein. Als ich Mutter wurde, blühte ich auf aber ich verband Weiblichkeit immer noch mit Handlungsunfähigkeit. Damit, benutzt zu werden. Verfügbar zu sein und weich. Ich wollte das gern, aber ich konnte nicht wirklich, da schwallte immer der Widerstand in mir auf. ICH BIN NICHT SCHWACH! Und jetzt bin ich genau das. Ich muss hinsehen und mir Zeit geben, Zeit die ich nicht bestimmen kann. Das fällt mir unsagbar schwer. Ich will funktionieren und habe Spaß daran. Ich liebe es, kraftvoll aufzustehen und den Tag zu er-leben. Und doch, die eigene Schwermut ist nicht zu überreden. Wenn ich jetzt wieder drüber bügele, werde ich meine chronischen Rückenschmerzen nie los und der Dunkelschleier wird sich nie heben. Ich bin also mit einer kleinen Kerze auf dem Weg in einen verschütteten Keller voller Not.

So lautet mein Auftrag, den ich nicht wollte und den ich nicht ablehnen kann. Ich habe bereits viel hinter mir gelassen, aber ich versuche noch immer, meinen Platz zu finden. Ich bin 50 und habe nicht mehr alle Zeit der Welt dafür. Ich habe nicht nur den Auftrag der Generationen vor mir, sondern vor allem den, mein eigenes Leben in dem Anspruch zu vollenden, seine Potenziale genutzt zu haben. Als ich jung war, habe ich es so formuliert: ich will wenigstens sagen können, ich habe es versucht. Sagen zu müssen, ich habe mich versteckt und sei es auch nur für ein halbes Jahr, gehört nicht dazu.

Sibylle, geb. 1971, August 2021

 

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Kriegsenkelgefühl

Schon immer fühle ich mich von Büchern und Filmen über den 2. Weltkrieg auf gruselige Weise angezogen, will alles wissen, sehen, hören, mit dem diffusen Gefühl, damals "schon gelebt" zu haben oder dass das zumindest etwas mit mir zu tun haben muss. Dabei sind vor allem Schuldgefühle präsent, es gibt eine starke Opfer-Identifikation und auch ein sehr unangenehmes Gefühl von Mitläufer-Verständnis.
Obwohl ich zu der Enkelgeneration gehöre, die ja angeblich "alles" hatte, und in meinem Leben viel gelernt habe, "eigentlich" glücklich und erfolgreich, bin ich zuweilen ein unglücklicher und unsicherer Mensch, mit großer Angst vor Autoritäten oder auch nur selbstsicher auftretenden Personen, denen ich reflexartig zu gehorchen scheine, geradezu stumm, mit dem Gefühl, nicht gesehen, nicht gehört zu werden und im Grunde unerwünscht und wertlos zu sein, jemand anderem durch meine Bedürfnisse etwas wegzunehmen. Kompensiert wird das mit einem Helfersyndrom, in dem ich mich aufreibe, was mir inzwischen aber auffällt, so dass ich manchmal dann blockiere und misstrauisch bin im Sinne von: da soll ich doch nur wieder helfen und arbeiten, da will mich nur wieder jemand ausnutzen, was Beziehungen ebenfalls erschwert. -
Meine oft schweigende, traurige und emotional zT abwesende Mutter ist schwer kriegstraumatisiert, verlor beide Brüder an Kinderkrankheiten, hungerte, wurde verschüttet, während der Vater zumeist im Krieg abwesend war und die Mutter an Tuberkulose litt und von ihr getrennt werden musste. Sie spielte mit Nachbarskindern auf der Straße, auf der Leichen lagen, das sei "für uns normal" gewesen, wie sie kürzlich erstmals erwähnte! Manchmal ist es, als sei sie immer noch das erschütterte und schutzbedürftige kleine Mädchen.
Ihre Sicht auf die Welt ist überschaubar, überwiegend durch eine zwanghafte Religiösität geprägt. Sie ordnete sich meinem Vater unter, blieb zuhause, wenig belastbar, oft krank (wie ich). Obwohl sie so bescheiden ist, versucht sie in der Familie ihre Erwartungen durchzusetzen, redet über Banales, hört nicht zu. Man fühlt wenig Wärme, bestenfalls den Versuch, diese zu schenken, zB über gute Ratschläge und Essen (ich sehe mein Essverhalten in diesem Zusammenhang).
Ich hatte oft das Gefühl, als ungeplante Nachzüglerin nicht da sein zu dürfen oder mein Dasein rechtfertigen zu müssen. Meine Mutter war oft krank, ich wurde als Baby zeitweise in der Obhut einer 15jährigen Cousine oder meiner 7-8jährigen Schwestern geparkt. -
Mein Vater wurde 1940 als einziger Sohn in eine Bauernfamilie geboren, die bereits zwei Söhne in Kriegen verloren hatte, weshalb er deren Vornamen bekam. Er wurde ein Workaholic und erlitt mit Mitte 40 einen Herzinfarkt. Ich erinnere mich sehr gut an diesen Tag: die Krankheit war vor uns verheimlicht worden, danach wurden wir in die Pflicht genommen, besonders brav und leise zu sein, um Aufregung zu vermeiden. Es wurde nicht über die Angst gesprochen, ihn zu verlieren. Unsere seelische Not war ja kein Vergleich mit der Not unserer Eltern, aber auch diese sprachen nie über ihre Gefühle.
Mein Vater bewundert nur materiellen Erfolg und wertet Menschen mit vom Konservativen abweichenden Lebensentwürfen ab, insbesondere Frauen. In seiner Biografie geht es nur um ihn und seinen bemerkenswerten beruflichen Aufstieg, Frau und Töchter werden nur am Ende in wenigen Sätzen erwähnt. Meine Einsen waren immer selbstverständlich. Bei meiner Doktorfeier (ich gehörte zu den etwa 10 von 100, die "summa cum laude" bekamen), hielt er mir vor, nicht wie der eine Doktorand einen finanziell dotierten Preis zu bekommen. Seine Liebe zeigt er mit Geldgeschenken, diese sind aber verbunden mit engen Verhaltensnormen und hohen Leistungserwartungen (und dazu dem Gefühl, man habe es selbst zu nichts gebracht und sei lebenslang von ihm abhängig).
Wir wurden als Jugendliche in unserer Autonomieentwicklung begrenzt, lebten zuhause in einer weltfremden rückständigen evangelikalen Welt mit restriktiven Moralvorstellungen, eine Auseinandersetzung in der Pubertät wurde verhindert (es wurde nicht diskutiert, sondern Vater hatte immer recht). Wichtig war die Erhaltung des Außenbilds einer "heilen Welt- Familie", Rücksicht auf die Gefühle unserer Eltern und Großeltern, und Leistung, Leistung, Leistung... Klage wäre Undank gewesen: so wurden auch Krankheiten bei jungen Leuten oft nicht ernst genommen oder verspätet behandelt: man solle sich nicht so anstellen, man sei ja noch jung, Menschen wurden auch für "Schwäche" verspottet. -
Ich empfand damals den inneren Antrieb zum Medizinstudium, um der Gesellschaft nützlich zu sein, war aber mit den realen Anforderungen des Berufs oft unglücklich oder überfordert, leide wie mein Vater unter zu hohem Verantwortungsgefühl und arbeite bis zur totalen Erschöpfung, im Urlaub dann häufig krank und passiv wie meine Mutter, mit dem von ihr übertragenen unstillbaren Wunsch, selbst endlich mütterlich umsorgt zu werden...
Ja, ich bin ein Kriegsenkel ...
das Thema interessiert mich sehr und ich freue mich sehr über dieses Forum, Danke für diese Plattform, die auch mich auf meinem Weg zu mir selbst weiterhelfen kann.

Januar 2021

 

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Was der Krieg mit meiner Familie gemacht hat

Ich kam 1989 zur Welt und mein Bruder 1985. Dennoch sind wir beide sogenannte Kriegsenkel. Materiell hat es an nichts gefehlt, dafür mehr an der emotionalen Beziehung zu unseren Eltern. Mein Großvater väterlicherseits wurde 1913 geboren in eine ärmliche Familie mit sieben Kindern in Süddeutschland. Schon von klein auf mussten er und seine Geschwister permanent mitarbeiten, um das Überleben der Familie zu sichern. Mit 28 wurde er als Unteroffizier in Norwegen eingesetzt. Nie werde ich die Geschichten vergessen, wie ihm die Kugeln am Kopf nur so vorbei flogen oder auch am mettalenen Zigarettenkasten abprallten. Oder wie ihm die Flucht aus dem amerikanischen Gefangenlager nach Kriegsende gelang. Mein Großvater war ein Kämpfer, der sich Schwäche nie eingestand. Nachdem drei seiner sechs Brüder im Krieg fielen, durfte er für ein Jahr nach Hause, um seinen Meister als Gipser zu machen. Doch dann kam der Volkssturm und er musste nochmal zurück an die Front. Nach dem Krieg lernte er meine Oma, Jg. 1921 kennen. Sie hatte ihren einzigen 18 jährigen Bruder im Krieg verloren, worüber ihr Vater nie richtig hinweg kam. Mit ihrem Handwerkerbetrieb bauten sich meine Großeltern väterlicherseits guten Wohlstand auf. Doch die Erziehung meines Vaters (*1956) war oft geprägt von Härte, sodass mein Vater ein negatives Weltbild und tiefes Misstrauen in sich entwickelte, das er unbewusst an uns Kinder weitergab. Auch eigene Unzugänglichkeit und Verdrängung übernahmen wir vom Vater. Meine Mutter (*1958) wiederum wurde als Kind nicht gesehen. Ihr Vater war zu Kriegsende 14 Jahre alt und ihre Mutter 13. Beide hatten die Entbehrungen der Besatzung hautnah miterlebt. Der Vater meiner Mutter war wiederum Bürgermeister und wäre fast von den Nazis in den letzten Kriegstagen stand rechtlich erschossen worden, weil er in seinem Dorf die weiße Fahne hissen ließ. Im letzten Moment konnte er in die Schweiz flüchten. Emotionale Wärme hatten beide Großeltern mütterlicherseits nicht erlebt. Deshalb blieb dies auch meiner Mutter verwehrt, die Zeitlebens deshalb mit ihrem Selbstwert zu kämpfen hat und dies an uns Kinder unbewusst weitergeben hat. Meine Eltern waren zeitlebens bestrebt "gute Kinder" zu sein. Und dennoch war gut nie gut genug. Perfektionismus schien die Lösung für alles zu sein. Heute ist klar, dass das leider nicht ganz korrekt ist. Heute kämpfen mein Bruder und ich gegen das negative Weltbild und gegen den Perfektionismus an. Genauso wie gegen die eigene Unzugänglichkeit und das Eingeständnis eigener Bedürfnisse.
Somit beeinflusst der Krieg auch immer noch das Leben von Enkeln und Kindeskindern maßgeblich. Oftmals unswissentlich, wobei die größte Zerstörung damals nicht die Bomben waren, sondern die emotionale Zerstörung junger Menschen. Wir, die Nachkommenschaft dieser Menschen, tragen heute teilweise noch die Folgen aus dieser Zeit - wissentlich und unwissentlich.

August 2020

 

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Nie dabei und doch erlebt

Nie saß ich im Bunker
und dennoch mittendrin.
Was warn denn all die Klunker
mit der Gasmaske am Kinn?

Nie hörte ich die Bomben
inmitten dunkler Nacht.
Durchschritt nie Katakomben
oder hielt die Fliegerwacht.

Doch all das prägte mich
durch meine Mutter und den Vater.
Denn sie befanden sich
inmitten aller Bombenkrater.

Noch heute höre ich, bei jedem Donnerschlag,
die vielen Bomben einst über Berlin.
Im Ansatz ich erahnen mag,
dass ich ein spätes Kriegskind bin.

Karin Rosenplänter - 2006

 

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Die Tränen meiner Eltern

Mein Leben lang litt und leide ich unter Depressionen. Es brauchte 47 Jahre bis ich zufälligerweise bei einer Therapeutin landete, die sich auf Traumatherapie spezialisiert hat. Zunächst fühlte ich mich ziemlich deplaziert, kann ich mich doch selber an nichts erinnern, was mich traumatisiert haben könnte, so sehr ich auch in meiner Erinnerung grub. Dennoch habe ich mich auf die Therapie eingelassen und was in diesem Rahmen an die Oberfläche gekommen ist, erstaunt mich immer wieder, denn es sind nicht die inneren Verletzungen, die ich persönlich erlebt habe, sondern die meiner Eltern, die ich in mir trage, so als wären es meine eigenen.

Bislang hatte ich mich vorwiegend mit meiner Mutter auseinandergesetzt, die sich als Schutzpanzer gegen die Gewalt in ihrer Familie einen manipulativen Narzismus zugelegt hatte, mit dem ich aufgewachsen bin. Meine Mutter ist 1942 in Bromberg im jetzigen Polen geboren. 1945 flieht sie mit ihrem Vater, ihrer hochschwangeren Mutter, zwei kleinen Brüdern und den Großeltern vor dem Russen nach Schleswig-Holstein. Die Armut und der Prestigeverlust hat die Beziehung zwischen meinen Großeltern sehr belastet, so dass es immer wieder zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen ihnen gekommen sein musste, welche meine Mutter bereits als kleines Kind miterlebte. Sie hat darüber lange nicht gesprochen. Erst vor gut einem Jahr höre ich mit halbem Ohr das Gespräch zwischen ihr und ihrem jüngsten Bruder zu und plötzlich wird mir so einiges klar. Meine Großmutter hat ihre Kinder - insgesamt sieben an der Zahl - abgelehnt. Sie war maßlos überfordert und hätte sie am liebsten an die Wand geschmissen, oder ertränkt. Dummerweise hat sie das ihren Kindern auch immer wieder gesagt. Als ich meine Mutter darauf anspreche, kommen weitere Ereignisse ans Tageslicht, denn das Schlimmste für sie waren die Auseinandersetzungen zwischen ihren Eltern, insbesondere wenn ihr Vater ihre Mutter so sehr würgte, so dass diese keine Luft mehr bekam und meine Mutter um das Leben ihrer Mutter fürchtete. Mir wurde dann auch klar, warum die Zeit vor Weihnachten für meine Mutter so belastend war und ist, denn wenn ihre Mutter sich erlaubte, für ihre Kinder für Weihnachten eine Klitzekleinigkeit zu kaufen, dann hatte ihr Mann sie umso mehr geschlagen und gewürgt. Es ist diese Gewalt, die Armut und der unbändige Hunger, die meine Mutter maßgeblich geprägt haben.

Vor zwei Wochen dann verlässt mich plötzlich und unerwartet eine enge Vertrauensperson, ohne dass ich irgendwie Einfluss hätte darauf nehmen können. Eine Vertrauensperson, bei der ich mich sicher und geborgen fühlte. Es löste in mir eine Flut von Gefühlen aus, die kaum zu ertragen sind. Es fühlt sich an, als wäre das Schlimmste, was man mir antun könnte, passiert. Die Hilflosigkeit, das Schweigen, die Schutzlosigkeit und die nunmehr fehlende Geborgenheit tun derart weh, so dass ich es kaum aushalten kann. In einem Gespräch weisst mich eine Freundin bereits darauf hin, dass es etwas "Altes" ist, was in mir so tobt und wütet. Es klänge sehr nach einer Retraumatisierung. Aber erst gestern, in einem weiteren Gespräch, fallen die Begriffe "schwerwiegende Verlusterfahrung" und die Frage, ob ich das schon mal erlebt hätte. Und da fällt mir auf, dass es nicht ich es bin, die es erlebt hat, sondern mein Vater und seine Mutter.

Mein Vater ist 1936 in Ostpreußen geboren. Sein Leben schien in Ordnung, bis meine Großmutter die Nachricht erhielt, dass ihr Mann im Krieg gefallen ist. Mein Vater war damals vier Jahre alt. Meine Großmutter hat den Verlust ihre geliebten Mannes nie verarbeitet und mein Vater sagte öfters, dass mit dem Tod seines Vaters sein Leben endete. In iher Trauer stecken geblieben, war es nämlich seiner Mutter nicht mehr möglich, sich um ihren Sohn zu kümmern. Was blieb war Schutzlosigkeit, die Sehnsucht nach Geborgenheit und Liebe und eine große Portion Einsamkeit. Komischerweise hat meine Oma nie von ihrem Mann erzählt. Nie davon, wie sie sich kennen gelernt hatten, wie er war, wie sie gelebt haben. In der ganzen Wohnung hing nicht ein einziges Bild von ihm, sondern nur ein Bild von seinem Grab in Frankreich. Es war so, als hätte der Tod sämtliche Erinnerungen überschrieben. 1947 wurde mein Vater mit seiner Mutter und seiner acht Jahre älteren Schwester quasi von den Russen aus Ostpreußen rausgeschmissen. Nach Vertreibung und einigen Jahren im Flüchtlingslager konnte sie endlich zu ihren Verwandten nach Eckernförde an die Ostsee ziehen. Erst mit 14 Jahren geht mein Vater zum ersten Mal in die Schule. Nach nur vier Jahren musste er sie wieder verlassen, weil er zu alt wurde. Seine mangelnde Schulbildung hat am Selbstbewusstsein meines Vaters immer gekrazt, obwohl er alles, was er wusste und konnte sich später selber beigebracht hatte. Ich konnte ihm nie klarmachen, dass das so viel wertvoller war, als meine vorgesetzte Schulbildung, die ich einfach nutzen konnte. Über die Erlebnisse in Ostpreußen, über die Flucht und das Flüchtlingslager hat mein Vater kaum gesprochen. Ich kann nur vermuten, was er alles gesehen und miterlebt haben muss.

Obwohl die Mutter meines Vaters uns immer vom Krieg erzählt hat, kann ich mich heute nicht mehr an die Geschichten erinnern, und auch die weinigen Fetzen, welche die Mutter von meiner Mutter über die Flucht erzählte, werden immer blasser. Alles andere ist Schweigen, weil die Erinnerungen wahrscheinlich zu schmerzhaft sind. Ich bin meinen Eltern für meine eigene Kindheit, in der ich mich wenig geborgen, schutzlos und sehr einsam gefühlt habe, nicht böse, denn sie sind auch nur das Ergebnis der Ereignisse, welche sie in ihren Familien miterlebt haben. Wütend macht mich der Krieg, weil er zerstörte und das Leid, welches er verursachte, von eine Generation in die nächste übertragen wird. Und so denke ich heute immer öfters, dass ich die Tränen meiner Großelten und Eltern weine.

Kerstin, Juli 2020

 

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Ein Dank an alle Verfasserinnen und Verfasser der Lebensgeschichten

Letztens habe ich einen Bekannten auf das forumkriegsenkel aufmerksam gemacht. Ein für mich sehr gestandener Mann, dem ich gar nie angesehen hätte, dass ihn innerlich so viel umtreibt. Danach habe ich geschaut, ob bei den neueren Lebensgeschichten im Forum auch etwas für ihn dabei sein und ihm weiter helfen könnte. Und bei den neusten Lebensgeschichten wusste ich wieder, das hier ist ein magischer Ort.

Wo sonst ist es möglich, von vollkommen unbekannten Menschen so tiefe und berührende Einblicke in ihr Leben und ihre Verstrickungen in Vergangenheiten zu erfahren. Die Geschichten, allesamt, und ihre Verfasserinnen und Verfasser wirken auf mich immerzu derart authentisch und unmittelbar, dass ich jede und jeden von ihnen so gerne einmal um mich herum wüsste, um zu fragen, zu fühlen, zu trauern und zu begreifen, was das Erlebte und Erfahrene mit uns und unserem Sein so alles angestellt hat.

Dank, für die intensiven, schmerzhaften, befreienden, erlösenden und hoffnungsvollen Einblicke in die auch dramatischen Leben der anderen und vor allem Dank, dass aus den Texten so viel Heilung und Wachstum sprechen darf, wenn erst einmal der Raum der Erkenntnis aufgegangen ist, das Vergangene, betrauert, vielleicht Stück um Stück losgelassen werden kann. Es ist ja oftmals wie ein Muster, das im Bann hält und das wichtig und stimmig war, zu schützen, was Innen so wertvoll und doch so verletzlich ist. Von diesem Muster abzuweichen, es auch in größter Not nicht aufzugeben, bedeutete ja Gefahr, und dabei ist es oftmals auch geblieben.

Mit den Lebensgeschichten im Forum erfahre ich nun immer und immer wieder, dass Muster und musterhaftes Verhalten, die oft nur der Aufrechterhaltung von scheinbar ausweglosen Lebenssituationen dienen, veränderlich sind, wenn ein Schauen hinter die Kulissen der Vergangenheit beginnt. Dann kann langsam und bedacht Neues entstehen und das Alte endlich und wirklich zurückbleiben.

Das zu „erlesen“ ist für mich das schönste Erleben an den Lebensgeschichten und dafür mein großer DANK!

Stefan, Juli 2020

 

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Lange Schatten

Durch einen Radiobeitrag aufmerksam geworden, hab ich dieses Forum hier gefunden. Ich las den ersten Beitrag und sofort fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Ich war regelrecht baff. War dies das Puzzleteil, welches mir so lange gefehlt hat? Aber von vorn…

Ich wurde 1974 gewünscht und erwartet in die DDR hineingeboren. In dieser Zeit war die DDR in ihrer Hochphase und ich hatte eine grösstenteils schöne Kindheit dort leben können. Meine Eltern sind beide 1950 direkt in dieses System hineingeboren und kannten bis 1989 überhaupt nichts anderes. Die Nachkriegsjahre am Rand von Berlin haben ihnen eine recht angenehme Zeit zum aufwachsen ermöglicht. Alles war im Aufschwung. Meine Großeltern sind alle zwischen 1918 und 1930 geboren. Geprägt wurde ich hauptsächlich von den Grosseltern mütterlicherseits, da ich bei ihnen den Grossteil der Zeit verbrachte und sie in derselben Straße wohnten. Mein Opa war 1918 auf die Welt gekommen und hat die Nachkriegswehen des 1. Weltkrieges noch erlebt. Im beschaulichen Böhmerwald hatte er eine schöne Kindheit, bis er vertrieben wurde und mit ihm die gesamte Familie sowie die Familie meiner Oma (geboren 1924). Die zwei waren nicht füreinander bestimmt, beide hatten wohl ihre Liebe eigentlich gefunden, aber durch die Kriegsjahre nichts mit den Partner beginnen können. Mein Opa geriet in russische Kriegsgefangenschaft, er war bei der Wehrmacht und ich denke heute, in dem Glauben, etwas Gutes zu tun. Er musste 10 Jahre in Sibirien in einem Lager ausharren. Sie haben dort heimlich Schmuck und Bilderrahmen gefertigt, einen gibt es noch. Als er nach dieser schweren Zeit zurück kam, traf er auf meine Oma, die in dieser Zeit auch eine wahre Odyssee erlebt hat. Die Flucht aus Böhmen mit nur einem kleinen Koffer, das Neuankommen in Dresden und alles, was ihnen auf dem Weg dahin passiert war, darüber wurde nicht viel gesprochen, genau wie über die Kriegsjahre meines Opas. Da beide nun mit ihrer eigentlichen Liebe nichts mehr anfangen konnten, fanden sie sich irgendwie zusammen und bauten sich ein Leben auf. Was genau auf der Flucht mit meiner Oma geschah und als die Russen dann kamen und alle gemeinsam in einem Haus Unterschlupf hatten finden können, aber die Tochter der Schwester meine Oma bitterlich weinte und alle nur zischten, dass sie still sein müsse, sie würde alle verraten, darüber lässt sich nur spekulieren und vermuten. Dies zur Familiengeschichte.

Meine Kindheit in der DDR war schön und frei. Das hört sich komisch an, frei…. Aber so fühlte es sich an, wenigstens die ersten 5 Jahre. Der Kindergarten war das Grösste für mich. Dann fing ich jedoch DDR-typisch früh mit 5 mit dem Leistungssport an. Und hier muss ich sagen, beginnt meine Odyssee und ich realisiere erst jetzt, wie stark das Ganze eigentlich schon vorherbestimmt war durch die Familiengeschichte. Ich geriet in ein System aus Machtmissbrauch, Vertrauensbruch und einer milden Form von Sadismus. Es geht auch um sexuelle Belästigung und Erniedrigung. Ich habe mich immer gefragt, warum ausgerechnet ich die war, die es am härtesten traf. Permanent hatten es die Trainer auf mich abgesehen, obwohl wir im Team 3 waren. Versteht sich von selbst, dass ich nie gewinnen konnte und immer im Schatten stand.

So lange ich mich erinnern kann, habe ich extremst reagiert auf Ungerechtigkeiten, die Frauen widerfahren. Sobald Männer ihren Status als Stärkere ausleben mussten, hat sich in mir alles aufgebäumt. Sogar, dass Frauen die Qualen einer Geburt erleben müssen, hat mich so dermaßen wütend gemacht. Und ich habe das so gar nicht verstanden. Weil Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau war in der DDR gross geschrieben. Ich habe selber keinerlei Ungerechtigkeiten erlebt. Mir wurde bis dahin nichts angetan. Und trotzdem haben mich bestimmte Menschen - das sehe ich jetzt erst mit 46 Jahren - sofort als Opfer erkannt und das auch ausgenutzt. Von heute aus würde ich sagen, dass ich in diesen Opferstatus gar nicht aus meinem eigenen Leben heraus hineingeraten bin. Da war etwas anderes. Etwas, das ich nicht greifen konnte. Was von aussen kam, von woanders, worauf ich keinen Zugriff hatte.

So lange ich zurück denke, hatte ich Angst vor sexueller Gewalt. Erst in den letzten Jahren und nach der Geburt meines Kindes hat sich vieles total normalisiert. Aber jetzt verstehe ich auch und konfrontiere mich.

Egal was ich auch anfangen wollte, es wollte einfach nichts so recht gelingen. Zuerst blieb mir das Abitur versagt, da gab es trotz systemtreuer Eltern Probleme, trotz 1,5er Notenschnitt. Und ich fügte mich. Dann begann ich eine Ausbildung, die so gar nicht meine war. Ich erkannte es und brach ab. Es folgte ein Praktikum in einem Familienbetrieb, das war eine Katastrophe. Chef und Chefin Alkoholiker und Choleriker. Ich litt sehr darunter. Ich blieb dem Job treu, welchselte aber den Ausbildungsbetrieb. Dort lief es zunächst. Dann jedoch wollte ich zusätzlich nach 2 Jahren Arbeit auf die Meisterschule gehen. Zuerst ok vom Chef bekommen und Aufnahmeprüfung bestanden. Kurz vor Antritt sagte er mir dann, es geht doch nicht, er braucht mich im Geschäft. Und eigentlich kann ich das ewig so fortführen, was immer ich anfangen wollte, es kam jemand, der mir Knüppel zwischen die Beine warf und ich? Fand nicht die Kraft zu kämpfen. Ich fügte mich.

Nach dem Lesen einiger Artikel hier habe ich nun mein Problem erkannt. Ich bin zutiefst verstrickt mit meiner Omafamilie. Ich habe Ängste, die aus ihrer Erfahrung resultieren. Ich geriet in sexuellen Missbrauch, weil das scheinbar ein Familienthema ist (dabei ist das aus meinem Leben eigentlich gar nicht mein Thema und auch sehr weit weg von mir). Ich hatte Angst vor Schwangerschaft, wo ich noch nicht mal Sex hatte. Ich hatte Angst in geschlossenen Räumen, nächtliche Panikattacken bis zur Bewegungsunfähigkeit und Alpträume. Und all das hat mit mir im heute so gar nichts zu tun. Ich weiss nicht, wer ich bin, wohin ich will und fühle mich nicht im Leben angekommen. Nicht in MEINEM Leben. Warum bin ich da? Was ist meine Aufgabe? Welchen Beruf hätte ich gerne gehabt, nachdem mir mein Wunsch Zahnärztin schon mit 14 zerschlagen wurde? Ich weiss es nicht. Irgendwas stimmt doch nicht mit mir. Ich mache anderen meistens etwas vor.

Die Schwester meiner Oma war sehr früh schwanger geworden (Erzählung als ich fast erwachsen war). Ungewollt, zu früh und vor allem unverheiratet. Das Kind musste also weg und so wurde es auch gemacht. Meine Oma war das jüngere Mädel und die Mutter sagte ihr wohl immer nur `dass du mir ja nicht mit einem Balg heim kommst`. Dabei wusste sie noch nicht mal, wovon man überhaupt schwanger wird. Ihr (Liebes-) Leben war geprägt von Ängsten und Sex war ihr wohl ein Graus. Was mich wieder an das Haus mit den Russen denken lässt und was ihr da wohl passiert ist. Mein Opa war jemand, der liebevoll war, allerdings auch Disziplin und Geduld verlangte. Was kleinen Kindern nicht unbedingt so gefällt. Er hat es erwartet und ich habe gefolgt, immer in der Angst, nicht zu gefallen oder als nicht gut genug bewertet zu werden. Seine Kriegsschrecken tauchten erst wieder im Sterbebett auf. Als ich ihn im Krankhaus besuchen konnte, war er schon im Delirium. Und er murmelte permanent von den Russen und von Kriegsdingen. Leider vieles unverständlich und daher verloren. Auch sonst habe ich vieles mit meiner Oma gemeinsam. Die wahnsinnig grosse Liebe zu Tieren, die Orientierungslosigkeit, die gern gelebte Fürsorge zb für alle zu kochen. Auch sie war in ihrem Leben eine Verlorene. Und irgendwie erkenne ich grade, dass es mir ganz genauso geht. Zu allem Übel wurde der Alptraum für mich aber noch dadurch grösser, dass ich nicht nur ein Kriegsenkel bin, sondern auch noch ein Stasikind. Was das bedeutet, weiss man nur, wenn man es erlebt hat. Auch hier bin ich wieder Opfer anderer Leute geworden, obwohl ich niemals irgendetwas selbst mit dieser Behörde zu tun hatte. Es bedeutet von anderen Kindern geächtet zu werden, Isolation, Abschottung und eingesperrt sein in ein System, das man selber nicht mitgeschaffen hat. Aber vielleicht war es irgendwie das Bestreben meines Opas alles besser zu machen, als bei der Wehrmacht für Deutschland. Ein anderes Extrem, möglichst weit weg davon was vorher war. Irgendwie fühle ich mich damit doppelt bestraft.

Wenn man jetzt denkt, was für ein trauriges Leben, stimmt aber auch das nicht. Ich habe geheiratet und zwar die Liebe meines Lebens. Ich habe ein Kind, was ich mir sehr gewünscht habe. Ich habe einen Hund, der einen ganz grossen Teil meines Lebens füllt. Ich habe einen Job, der mich zwar nicht glücklich macht, aber immerhin meinen Lebensstandard sichert. Und das alles 600 km von meinem Geburtsort und der Familie entfernt. Vielleicht bin ich irgendwann so weit, dass ich zurück kann. Aber die Verlorenheit wird mich wohl ewig begleiten.

S.M., Juni 2020

 

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Das große Unbekannte in mir

Schon seit Jahrzehnten frage ich mich immer wieder, was eigentlich mit mir genau los ist und warum tief in mir dieser Verdacht schlummert, dass ich eigentlich nicht ich bin, sondern eine Rolle spiele im gesellschaftlichen Kontakt. Sei es im Kontakt selbst mit engen Freund*innen, ja sogar in meiner Partnerschaft. Nie bin ich so, wie ich eigentlich bin, immer auf der Hut „erkannt“ zu werden und meine Bedürfnisse wurden oft dadurch gerne übersehen, so dass ich sie immer wieder lautstark im Alltag einfordern muss. Somit bin ich permanent im Stress mit mir selbst.

Nach mehreren intensiven Gesprächen mit einer wiedergefundenen Nichte meiner Großmutter mütterlicherseits und einem Bericht, den ich mir in der Mediathek, der öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten angesehen habe und einer Lebensgeschichte in diesem Forum, wo ich mit Entsetzen festgestellt habe, dass dies auch fast eins zu eins meine Geschichte ist, setzt sich mein inneres Mosaik aus Scherben momentan rasend schnell zusammen.  

Ich bin 1976 geboren, mein Bruder 1974. Meine Mutter war Jahrgang 1951, mein ist Vater Jahrgang 1950. Meine Eltern trennten sich, als ich 2 Jahre alt war und ab dem Zeitpunkt verbrachten mein Bruder und ich unsere Kindheit fast ausschließlich bei unseren Großeltern (mütterlicherseits). Opa war Jahrgang 1930 und aus Ostpreußen im Januar 1945 geflohen. Er hat nie darüber gesprochen. Ich kenne ihn nur laut und betrunken. Erst als er schwer krank wurde, erkannte ich, was für ein sensibler und intelligenter Mensch er war, voller Ängste und Phobien (er hatte z.B. vor Angst nie weder ein Schiff, noch ein Flugzeug betreten). Von seiner Flucht hat er mir erst auf dem Sterbebett erzählen können. Allerdings sehr unkoordiniert, da er unter Morphium stand und ich konnte ihm dadurch kaum folgen. Die Familie meiner Großmutter (Jhg. 1927) war komplett unter Hitler durchorganisiert und auch da wurde nach dem Krieg nie wieder drüber gesprochen. Es wurde gedeckelt, wo es ging. Auch wenn  es um die Weitergabe von  Liebe, Geborgenheit und Anerkennung an die eigenen Kinder ging.

Wir hatten eine schöne Zeit bei unseren Großeltern. Die dunkle, angstbesetzte Zeit an den Wochenenden mit unserer völlig überforderten Mutter war wohl so traumatisch für mich, dass ich nur noch schemenhafte Erinnerungen habe. Den Rest habe ich verdrängt, dafür seit ich denken kann, irrationale Ängste, Panikattacken, null Selbstwert dank meines narzisstischen Vaters, der irgendwie auch ab und zu mal in Erscheinung getreten ist und schwere, depressive Phasen. Meine Mutter hat  immer wieder lautstark gegen meine Großeltern aufbegehrt mit zum Teil extremen Verhaltensweisen. Sie hatte, wie ein Großteil der Familie, dazu ein starkes Alkoholproblem und ist mit 49 Jahren daran gestorben. Ihr jüngerer Bruder mit 58. Alkohol war in unserer Familie die „Medizin“, um das Deckeln des generationsübergreifenden Traumas auszuhalten. Daran sind auch fast alle engen Familienmitglieder früh gestorben, bis auf mein Vater und mein Bruder. Zu denen ich vor einigen Jahren den Kontakt abgebrochen habe, denn sie haben sich fürs weiter deckeln entschieden und ich mich für die Aufarbeitung und Konfrontation mit mir selbst. Immer wieder stieß ich in den ganzen Jahren an die Grenze bei der Frage nach der genauen Ursache für diese so extrem verbreitete Suchtproblematik (ich war davon übrigens auch betroffen, bin aber seit 10 Jahren „trocken“) in meiner Familie mit ihrer ganzen Tragik, die daran hängt. Nun bin ich auch dank dieses Forums ein so großes Stück weiter in meiner Selbstfindung.

Trotz allem bin ich eine grundsätzlich positiv eingestellte und fröhliche Person geblieben, trotz meiner Geschichte und diversen gesundheitlichen Einschränkungen, die sich aufgrund meines psychischen Dauerstresses so angesammelt haben und mir es schon seit Beginn meiner beruflichen Laufbahn unmöglich gemacht haben in Vollzeit zu arbeiten. Das ist eben mein Päckchen….

S.C., Mai 2020

 

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Identität

Ich wurde 1971 geboren und bin in zwei Kriegskinder-Familien aufgewachsen.

Bis zu meinem neunten Lebensjahr bei meiner Mutter (1945 geboren) und meinem Vater (1934 geboren). Scheidung, sadistischer neuer Ehemann. Dann trank meine Mutter Salzsäure. Es war ihr dritter Selbstmordversuch, dieses Mal erfolgreich, und mein kleiner Bruder und ich kamen in die Familie unserer Tante (1938 geboren). Sie war die ältere Schwester unserer Mutter.

Meine Mutter war Lehrerin (Sport und Handarbeiten). Ich erinnere sie als liebevoll und traurig und wunderschön.

Mein Vater war ein völlig aus der Spur geratener Pseudo-Intellektueller und Pseudo-Jazz-Drummer, der Rothändle ohne Filter aus schwarzen Zigarettenspitzen rauchte und immer einen Anzug trug und obendrein noch spitzenmäßig aussah, am Ende war er aber einfach nur ein Säufer. Sein um einige Jahre älterer Bruder, SA-Mitglied, war gegen Kriegsende an der Ostfront verschollen, und ich glaube, die Eltern meines Vaters haben diesen toten Nazi (den ich irgendwann offiziell für tot erklären lassen musste) immer mehr geliebt als ihren lebendigen Sohn.

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Mehr weiß ich inzwischen über die Geschichte meiner Familie mütterlicherseits, denn ich habe kürzlich Kontakt zu einem Onkel aufgenommen, dem älteren Bruder meiner Mutter, und ich bin ihm sehr dankbar, dass er mir so viel über die Familiengeschichte erzählt. Mein Onkel wurde 1944 geboren.

Ganz anders als in meiner Erinnerung, waren meine Großeltern mütterlicherseits keine strammen Nazis. Das Gegenteil war der Fall. Meine Erinnerung beruhte vor allem auf dem Satz:“Dein Großvater ist aus Angst vor den Alliierten an einem Hirnschlag gestorben“. Inzwischen weiß ich, dass ich diesen Satz völlig fehlinterpretiert habe.

Mein Großvater kam aus Leipzig, wo er auch meine Großmutter kennengelernt hat. Er war Direktor einer Schule in Colditz. Weil ihm eines Unfalls in seiner Kindheit wegen ein großer Teil eines Fußes fehlte, wurde er nicht eingezogen. 1937 ließ er sich „aus gesundheitlichen Gründen“ nach Aurich (Ostfriesland) versetzen. In Wirklichkeit ließ er sich versetzen, weil er Angst hatte, von Bekannten in Leipzig als Jude denunziert zu werden.

Denn er war Halbjude. In Leipzig war ein jüdischer Freund von der Gestapo abgeholt worden und nie wieder aufgetaucht - daraufhin hat sich mein Großvater einen gefälschten Ariernachweis organisiert und ist damit auch tatsächlich durch den ganzen Krieg gekommen. Er hat Aurich während des Krieges kein einziges Mal verlassen. Seine Frau und die Kinder haben den größten Teil des Krieges in einem kleinen Ort in der Nähe Leipzigs verbracht. Dort lebte die Schwester meiner Großmutter, sie hatte ein großes Grundstück: Obstbäume, Gemüse, Hühner. Die Lebensmittelversorgung war also gut. Ihr Mann musste nach Kriegsende mit ansehen, wie seine Tochter immer wieder von Russen vergewaltigt wurde. Er hat den Rest seines Lebens im Rollstuhl verbracht, wahrscheinlich hatte er einen Schlaganfall. Eines Tages hat er versucht, meiner Mutter über den Kopf zu streicheln. Es ist ihm nicht gelungen. Sie nahm seine Hand und führte sie über ihr Haar. Plötzlich konnte er lachen und war glücklich. Ich weiß nicht, ob er ein Nazi oder ein Opfer war.

Mein Großvater sah sehr gut aus und war ein ziemlicher Schwerenöter. Er hatte in Aurich viele Affären mit Frauen, deren Männer an der Front waren. Den Auricher Frauen konnte bei so intimem Kontakt kaum entgehen, welches Körperteil ihn als Juden identifizierte. Deshalb wurde in Aurich bekannt, dass er Jude war, und deshalb wurde meinem Onkel, der mir grade all diese Familiengeschichten erzählt, eines Tages im Schwimmbad von einem anderen Jungen die Badehose runtergezogen: „Stimmt, er ist ein Jud“. Doch niemand hat meinen Großvater denunziert.

Er starb in Aurich, kurz nach Kriegsende und noch vor der Geburt meiner Mutter. „Dein Großvater ist aus Angst vor den Alliierten an einem Hirnschlag gestorben“. Das hatte ich als Kind so interpretiert, dass mein Großvater ein Nazi gewesen wäre und Angst vor den Alliierten hatte. In Wirklichkeit war es ganz anders. Er ging kurz nach Kriegsende von der Schule, in der er unterrichtete, nach Hause, und sah: Die Engländer hatten sein Haus ausgeräumt, um Wohnraum für Offiziere zu schaffen. Sämtliche Möbel standen im schweren ostfriesischen Regen auf der Straße. Im Nachhinein war es übrigens so, dass die Engländer das Haus gegenüber plötzlich attraktiver fanden und sich dort einquartiert haben.

Er versteckte sich bei einer Nachbarin vor seinen eigentlichen Befreiern. Seine Nachbarin setzte ihn aufs Sofa und ging Tee kochen. Als sie ihm den Tee brachte, fand sie ihn schlafend auf ihrem Sofa. Am nächsten Morgen schien er immer noch zu schlafen, doch er war tot. Wahrscheinlich auch ein Schlaganfall. Er wurde 52 Jahr alt.

Er war vielleicht plötzlich noch viel haltloser als unter dem Nazi-Regime. Er war ein Halbjude, der, um unter diesem Regime überleben zu können, sämtliche Hinweise auf sein Judentum vernichtet hatte. Nazideutschland hat den Krieg verloren - wer bin ich jetzt? Ein Arier, der die Alliierten fürchten muss? Oder ein Jude, der von den Alliierten gerettet wurde?

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Nach dem Selbstmord unserer Mutter landeten mein kleiner Bruder und ich bei ihrer älteren Schwester, 1938 geboren. Sie war ein knallharter Eisbrocken und hat uns von der ersten Sekunde an nicht gewollt. Ihr Ehemann hat bei all dem keine Rolle gespielt, hat sich immer nur sein knallrotes Gesicht mit Seife abgeschrubbt und an seinen freien Abenden die Schuhe der Familie geputzt. Sie war der Chef. Über die Herkunft und Geschichte dieses angeheirateten Onkels weiß ich nichts.

„Ihr sollt dankbar sein!“, wenn wir einfach nur kleine, verlassene Kinder mit einer toten Mutter waren. „Stimmt’s, oder hab ich Recht?“, wenn wir einfach nur kleine Kinder waren, die die Welt nicht kapieren konnten oder die Welt anders begriffen haben als der Eisbrocken. Damals war AIDS großes Thema, und ich erinnere übelste Homophobie. Das verstand ich schon als Kind, das keine Ahnung von Sexualität hatte, nicht. Ich habe die Schwulen als Opfer gesehen, nicht als Täter.

Alles war Strafe und Hass. Eine Mark Taschengeld im Monat (mein Bruder erinnert fünf Mark), die uns aber immer direkt wieder abgenommen wurde, weil wir irgendein schweres Vergehen begangen hatten. Ich habe mit 12 Jahren angefangen, Lack-Eddings und sonstige kleine Status-Symbole zu klauen, denn dadurch, dass ich die abgetragenen 70er-Jahre-Klamotten meiner Cousine auftragen musste, hatte ich ohnehin einen sehr schweren Stand in der Schule.

Niemand hat mir erzählt, wie meine Mutter gestorben ist. Meine Tante sagte tatsächlich, sie wisse es selbst nicht, doch schon als Kind erschien mir das äußerst unwahrscheinlich. Meine Tante war sogar zu herzlos, sich irgendeine „normale“ Todesart auszudenken, mit der kleine Kinder hätten umgehen können. Sie ließ uns im Ungewissen. Das war Folter, denn ich habe immer gefühlt, dass meine Mutter sich umgebracht hat. Als ich 13 war, habe ich den Dokumentenschrank meiner Tante durchsucht und fand die Bestätigung. Ich nahm all meinen Mut zusammen und habe meine Tante damit konfrontiert. Dass ich an ihre Unterlagen gegangen war, war das schwerste Vergehen überhaupt.

Nun hielt ich es wirklich nicht mehr aus. Mir war endlich alle vermeintliche Sicherheit oder Versorgung egal, ich wollte nur noch raus aus diesem Haus. Ich habe 50 Mark aus dem Sparschwein meines Cousins geklaut und mir ein Zugticket nach Aurich, zu meiner Großmutter, gekauft. Theoretisch hätte ich sie natürlich vorher anrufen können, aber die Wählscheibe des Telefons meiner Tante war mit einem Schloss versehen. Auch die Türen zur Küche und zum Wohnzimmer wurden für die Nacht abgeschlossen. Alles, damit „die angenommenen Kinder“ die Familie nicht durch einen Griff in den Kühlschrank oder ein fünfminütiges Ortsgespräch finanziell ruinieren konnten. Morgens donnerte meine Tante mit ihren Holz-Clogs die Steintreppe hinunter und rasselte laut mit dem Schlüsselbund. Es war wie im Knast.

Es gibt so viel mehr Details, und es fällt mir schwer, nicht alles in epischer Breite zu schildern, jetzt, wo der Bann irgendwie gebrochen ist.

Inzwischen weiß ich, dank meines Onkels, der mir seit Kurzem die Familiengeschichte erzählt, dass niemand aus unserer Familie uns nach dem Tod unserer Mutter aufnehmen konnte oder wollte. Mein Onkel, er war die erste Wahl unserer Großmutter, wäre von seiner Frau verlassen worden, wenn er uns aufgenommen hätte. Meine Tante, zweite Wahl, hat uns nur aufgenommen, weil meine Großmutter ihr zusätzlich zum staatlichen Pflegegeld den Großteil ihrer Witwenrente und so einige Wertsachen überlassen hat.

Nachdem ich zu meiner Großmutter abgehauen war, musste ich mangels Alternativen zu meiner Tante zurück. Ich habe noch zwei weitere Jahre dort gelebt, und in all dieser Zeit hat niemand aus der Familie mehr mit mir gesprochen, wegen meines schrecklichen Verrats. Außer: „Aufstehen! Keller aufräumen! Garten bewässern! Zaun lasieren! Schlampe!“ Mit 15 war ich ein Wrack. Ich hatte komplett aufgegeben.

Doch dann ist mein kleiner Bruder weggelaufen, als er 13 war. Er hatte im Keller eine Konfrontation mit unserer Tante und ein kleines Küchenmesser hinter dem Rücken verborgen. Vielleicht wollte er sie wirklich töten? Ich wollte eigentlich immer nur mich selbst töten. Jedenfalls schrie sie ihn an: „Wenn noch einmal einer von euch wegläuft, dann kommt ihr ins Heim“. Mein kleiner Bruder ergriff die Gelegenheit beim Schopf und lief am nächsten Morgen weg, und damit hat er mir bestimmt das Leben gerettet.

Denn wir kamen dann in die Jugendwohngruppe eines Kinderdorfs. Das war zwar auch nicht superoptimal, weil ich mit 15 Jahren von einem 34-jährigen Erzieher in schwerer Midlifecrisis flachgelegt wurde - aber zum ersten Mal bekamen wir die Möglichkeit, wir selbst zu sein. Herauszufinden, wer und was wir sind. Wir waren keine Eindringlinge mehr, die man kleingehalten, gehasst und als Arbeitssklaven missbraucht hat. Wir waren willkommen. Ich war besonders willkommen, denn ich hatte gelernt, willfährig und nett und angepasst zu sein. Trotzdem durfte ich plötzlich Punkrock hören und mich entsprechend kleiden. Das war eine solche Befreiung.

Als einzige in der Gruppe, die aufs Gymnasium ging, habe ich meinen Mitbewohnern (die meisten waren auf der Sonderschule) bei den Hausaufgaben geholfen. Das hat mir unendlich gut getan, obwohl die mich natürlich alle für eine arrogante Schnepfe gehalten haben. Plötzlich war ich jemand, der anderen helfen konnte! Darüber definiere ich mich vermutlich noch heute. Wenn ich helfen kann, bin ich nicht völlig wertlos.  

Als ich grade 18 war, habe ich Kontakt zu meinem leiblichen Vater aufgenommen. Wir haben uns ein paar Mal getroffen, und ich hatte gute Gespräche mit ihm. Ich mochte ihn wirklich sehr, obwohl er seinen Doppelkorn, vor meinen Augen, direkt aus der Flasche trank. Ich hatte Hoffnung auf Familie. Etwa drei Monate, nachdem wir uns erstmals wiedergesehen hatten, rief er mich an, um mir mitzuteilen, dass er sich umbringen würde. Ich habe stundenlang auf ihn eingeredet. Er ließ sich nicht davon abbringen. Ich wurde am Ende so wütend, dass meine letzten Worte an ihn lauteten: „Dann mach doch, was du willst, du Arsch!“ Dann habe ich den Telefonhörer aufgeknallt. Zwei Tage später stand die Kripo vor meiner Tür. Er hatte sich irgendwie mit Strom getötet, während seine Lieblings-Jazzmusik lief.

Dann musste ich seine Wohnung auflösen. Die Wohnung eines fremden Mannes, der vielleicht mein Vater hätte sein können.

Es ging mir sehr lange ziemlich schlecht. Punkrock, Kokain, Speed, MDMA, totale Verweigerung. Nur so habe ich mich selbst mehr als die Depression und die Angst gespürt. Dachte ich jedenfalls. Mein Abitur habe ich an meinem 18. Geburtstag geschmissen. Natürlich habe ich auch keine vernünftige Ausbildung.

Mit den Drogen konnte ich mit Ende 20 ohne Therapie aufhören. Ich war nach Berlin gezogen und konnte dort zufällig im Filmausstattungsbereich Fuß fassen. Für Drogen war da plötzlich gar keine Zeit mehr.

Erst mit Mitte 30 habe ich eine Verhaltenstherapie begonnen. Bis dahin war ich davon überzeugt, dass es allein meine Schuld war, dass es mir so schlecht ging. Dass ich nunmal schwach, wehleidig und dumm war. Meine großartige Therapeutin hat mir unendlich geholfen.

Ungefähr zu Therapiebeginn habe ich meinen Ehemann kennengelernt. Er hat mir sehr früh erzählt, dass er Vierteljude ist.

Sein Vater hatte als Halbjude Buchenwald überlebt, weil er mit dem Stempel „Politischer“ inhaftiert wurde und die inoffizielle kommunistische Lagerleitung ihn allein deshalb vor dem Hungertod bewahrt hat. Zuvor hatte er als Linsenschleifer beim „Roten Zeiss“ gearbeitet. Der Rote Zeiss hat ihm jederzeit freigegeben, damit er mit dem Zug durch Deutschland reisen und schriftliche Nachrichten an Widerstandsorganisationen übergeben konnte. Irgendwann flog das auf, und er wurde nach Buchenwald verschickt. Der Vater meines Mannes war zwar offiziell Halbjude, im Herzen aber ein fundamentalistischer Christ. Mein Mann ist also in einer evangelikalen Sekte (Freikirche) aufgewachsen, unter der Aufsicht eines Vaters, für den die evangelische Religion alles bedeutet hat. Sein Vater hat nach dem Krieg evangelikale Pastoren für die Sekte ausgebildet. Mein Mann hat aus lauter Verzweiflung Theologie studiert, eigentlich aber während des gesamten Studiums depressiv im Bett gelegen und die Wand angestarrt. Er bekam sein Diplom mit den Worten: „Nur, wenn Sie nicht vorhaben, jemals in diesem Bereich zu arbeiten“. Er hat das begeistert bejaht und wurde Journalist.

Ich war begeistert über die jüdische Geschichte meines Mannes, denn ich schämte mich so unendlich für meine vermeintlich faschistische Familiengeschichte. Der ursprüngliche Familienname meines Mannes war tatsächlich „Levi“. Seine Familie hat sich in der Vorkriegszeit umbenannt, um ihr Judentum zu verbergen, aber das hat natürlich nicht geklappt. Die gesamte Familie ist rechtzeitig nach Brasilien geflohen, abgesehen vom Vater meines Mannes, denn er wollte ja im Widerstand arbeiten. So haben alle den Holocaust überlebt. Doch ein Onkel meines Mannes lernte in Brasilien seine spätere Ehefrau kennen, und sie war die einzige Überlebende ihrer Großfamilie...

Als wir heiraten wollten, habe ich meinen Mann gebeten, seinen ursprünglichen Familiennamen wieder anzunehmen, weil ich das als cooles und fieses Statement für meine vermeintliche Nazi-Familie empfunden hätte. Damals hatte ich ja noch keine Ahnung von meiner jüdischen Abstammung. Aber mein Mann war Journalist bei einer großen Berliner Tageszeitung, stand also in der lokalen Öffentlichkeit und wurde als „Judenjournalist“ auf mehreren einschlägigen Neonazi-Websites geführt. Er hatte Angst. Das ist erst 10 Jahre her. Kurz darauf kauften wir ein Haus in einer brandenburgischen Waldsiedlung im Berliner Speckgürtel, und im braunen Brandenburg war ich plötzlich auch ganz froh, nicht Levi zu heißen.  

Christina, Mai 2020

 

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Schuld und Tadel

Ich wurde im Dezember 1970 in Berlin geboren und habe eine etwa 4 Jahre ältere Schwester. Meine Eltern sind ebenfalls gebürtige Berliner, 1942 und 1943.
Das zentrale Thema unserer Familie ist bis heute Schuld. So erlitt meine Mutter während meiner Geburt einen Beckenbruch und sie erzählt bis heute gerne die Geschichte, wie ich ihr bei meiner Geburt das Becken brach.
Ich bin Linkshänder, war schon immer recht lebhaft und habe schon sehr früh festgestellt, dass ich anders bin. Bis heute passe ich nicht in die Gesellschaft.
Das erste, woran ich mich bewusst erinnere ist, dass ich mit 5 Jahren die Straße runter renne auf der Flucht von zu hause. Mutti fing mich, dann der übliche Teppichklopfer, mit dem ich im späteren Verlauf meiner Kindheit noch recht oft zu tun hatte. So lernte ich sehr früh, sehr auf meine Worte aufzupassen und andererseits aber auch, dass ich der moralische Sieger war, sobald geprügelt wurde, denn dann hatte sie einfach keine Argumente mehr. Allerdings habe ich bis heute massive Probleme mit Berührungen aller Art, auch zärtlichen. Meine erste Erkenntnis im Leben war dann auch, dass ich nie wieder zu Mutti gehen darf, wenn ich ein Problem habe, weil dann alles nur noch schlimmer wird. Ich kann mich auch nicht erinnern, Mama oder Papa als Anreden gebraucht zu haben. Das waren immer Mutti und Vati.
Ich darf sagen, ein wirklich gutes Gedächtnis zu haben. Aber auch das aus dem frühen Wissen heraus, dadurch im Ernstfall bessere Karten durch lückenlose Argumentation zu haben. Half aber selten.
Mein Vater war nicht wirklich existent. Arbeit, Freizeitmusik, Abendfortbildung, Modellbau, Kellerhobbies. Er ist bis heute nicht sehr auffällig im Gespann meiner Eltern.
Eine eigene Meinung durften meine Schwester oder ich schon gar nicht haben. Diskussionen wurden meist sofort, spätestens aber bei „Formfehlern“ jeglicher Art wie Emotionalität unterbunden. Bis heute ist kein Gespräch mit meinen Eltern möglich. Mittlerweile habe ich den Kontakt folgerichtig komplett abgebrochen.
Jedenfalls wurde mir nach (wie nennt man das?) meiner Bewusstwerdung im Vorschulalter schnell klar, dass mir offensichtlich die Rolle des Schuldigen und Lügners zugedacht war. Schlechte Voraussetzungen nicht zuletzt deshalb, da meine Schwester im Gegensatz zu mir seit jeher die perfekte Diplomatin ist und meinen Eltern gerne nach dem Mund redet. Ihren eigenen Leidensdruck erkennt sie dabei meiner Meinung nach leider nur sehr partiell.

Interessant fand ich beim Lesen heute morgen, dass Migräne offensichtlich ein häufiges Symptom darstellt und ich bin sehr froh, dass dieses Leiden mich mittlerweile fast gänzlich in Ruhe lässt, nachdem ich gerade als Kleinkind oft und sehr stark unter Migräne litt. Auch muss ich keine Fingernägel mehr knabbern, bis es blutet und der Schmerz kommt. Aber ganz und gar habe ich die Tendenz zur Selbstzerstörung nie wirklich verloren.
Eine recht komplizierte und komplexe Familiensituation, das Großwerden in der Einflugschneise des Flughafens Tegel in den 70ern wie auch andere Faktoren möchte ich hier gar nicht näher erwähnen. Zusammenfassend kann ich aber sagen, dass die Geschichte meines Lebens daraus besteht, all diese Lasten meiner Kindheit von den Schultern zu bekommen und buchstäblich endlich frei atmen zu können. Und nicht zuletzt dieses schreckliche Konstrukt in mir aus Emotionen, autistischen Tendenzen, Panikattacken und einem generellen Unwillen, der Welt zu begegnen, endlich in den Griff zu kriegen.
Auf das Thema Kriegsenkel bin ich erst vor ein paar Jahren gestoßen. Da war anfangs nur der Begriff, aber alles bekam plötzlich Sinn. Beide Eltern geboren im Bombenhagel, aufgewachsen in Mangel und Not. Meine Eltern können bis heute nichts geben. Weder materiell noch emotional. Und das ist nicht einmal Geiz, sondern so wurden sie ganz einfach aus der Situation heraus sozialisiert und dabei fürs Leben traumatisiert.

Das liest sich alles bestimmt gesetzt und distanziert und es ist richtig, dass ich im Laufe der Jahrzehnte sehr viel Zeit mit Selbsttherapie in verschiedensten Formen gefüllt habe. Die unbändige Wut aber, dieses Brodeln und Kochen, manchmal auch der Moment der stillen Einkehr, wo ich die Augen schließe und mir vorstelle, meine Mutter grün und blau zu schlagen und sie auch mal leiden zu lassen, diese Wut ist vielleicht schwächer geworden, aber auch mit knapp 50 noch unfassbar stark in mir.
Die Wut ist das Schlimmste.

Damit das nicht der letzte Satz war, möchte ich kurz das letzte Erlebnis mit und bei meinen Eltern schildern. Ich kam damals zu einem kleinen Familienfest und die Ecke im Wohnzimmer meiner Eltern, in der immer das Klavier gestanden hatte, das alte Klavier meines Uropas, das Familienerbstück, das Instrument, auf dem ich Zeit meiner Kindheit und Jugend geübt habe, war leer. „Das haben wir einem Kinderheim geschenkt. Wir brauchten den Platz.“
Seitdem ist ganz aus. Sie haben einmal mehr das getan, was sie am besten können. Anderen weh tun.
Mir tat dieser Schritt rückwirkend betrachtet recht gut, er kam gefühlt aber Jahrzehnte zu spät. Nichts mehr, was ich vergeblich suche oder gern hätte und sowieso nie bekomme. Ein lachendes, ein tränendes Auge. Und der Blick auf andere Dinge gerichtet. Nicht dass mein Leben plötzlich gut geworden wäre, aber es verändert sich etwas. Vielleicht kann ich den beiden (besonders meiner Mutter) eines Tages verzeihen, das ist der große Wunsch. Aber so weit bin ich leider noch nicht. Geliebt werden ist Thema, mich selber lieben ist Thema. So zugeballert mit mir selber sein, dass wenig Kanäle frei sind für anderes. Und nicht den Humor verlieren ist ebenfalls sehr wichtig - trotz allem. Alles wird gut, ganz langsam.

Jochen, November 2019

 

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Meine Erfahrungen

Mit Wut und Trauer habe ich mehrere Berichte bei Ihnen gelesen.
Bin 1961 geb., Mutter geb. 1941, aus Tilsit geflohen mit Mutter und Schwester. Hat in einem kleinen Dorf in Unterfranken meinen Vater, 1940 geb., kennengelernt. Auch er hat seinen Vater im Krieg verloren. Der Onkel ist als Vater und Landwirt als Ersatz eingesprungen.
Ja sie hatten kein liebevolles Leben, das weiß ich wohl, die Triebe in Ihnen führten zu meiner Geburt. Ich war da, keiner wusste was mit mir anzufangen. Eigentlich war ich nur Ballast. Meine Mutter hat Vater und mich verlassen, 1966 und 1969.
Wo ich in dieser Zeit lebte bleibt für immer ein Geheimnis über das niemand sprechen will. Ich lernte schnell still zu sein und nicht aufzufallen, mir eine eigene Welt im Kopf zu schaffen.
Das Problem war nur in meiner Welt war alles gut. In der echten nicht.
Lernte den Beruf des Koches, den ich bis heute noch mache. Außer Arbeit das Leben im Kopf, dem ich noch manchmal fröne. Gut, habe irgendwann geheiratet, da meine Tochter zur Welt kam. An ihr wurde zu dem, was ich erlitt, obwohl ich doch nur lieb Geborgenheit und Vertrauen geben wollte, es ging alles schief, alles ging ins Gegenteil. Meine Tochter litt unter Halluzinationen mit 12 Jahren, mit 15 Bulimie und ritzen. Und ich habe nichts mitbekommen, weil ich arbeitete.
Heute trage ich immer noch diese Schuld in mir, gegen jeden Verstand. Meine Tochter hat mir vergeben aber...
Ich habe in meinen Klinikaufenthalten so viele getroffen in meinem Alter, die unter der Erziehung ihrer Eltern leiden bis heute.
Kann das alles nicht in Worte fassen! Warum ist es so schwer an mich zu glauben? Ich werde überall gemocht, habe nie einen Menschen mit Absicht geschadet. Tue alles für andere. Weiß, ich sollte mir Freude bereiten, doch weiß ich beim besten Willen nicht wie oder was.
Irgendwie scheinen meine Tochter und ich die Depressiven anzuziehen, es gibt so viele in unserem Dunstkreis.

Wünsche allen, die das lesen, sie mögen die Kraft haben zufrieden zu leben.

Wolfgang, August 2019

 

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„Wer weiß, wo Du mal noch landest?“

Mein Vater stammte aus Ratibor, Schlesien und wurde mit 17 Jahren in das letzte Kriegsjahr eingezogen. Er kam im Anschluss für 4 Jahre in russische Gefangenschaft nach Sibirien. Mit 22 kam er nicht nach Hause zurück, sondern zu seinem ältesten Bruder, der nach englischer Gefangenschaft schon im Ruhrgebiet gelandet war.
Hier lernten sich meine Eltern kennen. Meine Mutter stammte aus Castrop-Rauxel. Sie heirateten 1955. Ich wurde im Oktober 1965 als 2. Kind geboren (das 1. Kind verstarb).
Meine Mutter war sehr dominant. Als bei meiner Einschulung festgestellt wurde, dass ich Linkshänder war, wurde ich langsam, aber sicher umerzogen. Damals war das noch so. Also fühlte ich mich unsicher, war ich doch, so wie ich war, nicht „richtig“. Meine Grundschulzeit war gut, meine Noten auch. Mit dem Wechsel zum Gymnasium rutschten meine Noten immer tiefer in den Keller.
Mein Vater gab mir keinen Halt, weder in schulischer Hinsicht noch in der Freizeit. Er selbst war sehr introvertiert. Zuhause wurde nicht viel über Gefühle gesprochen, also begann ich meine Gefühle zu ignorieren. Ich begann zu träumen, viele davon kamen immer wieder, so auch der Traum von einem Mann aus dem osteuropäischen Raum...
Im Alter von 20 Jahren bestand ich das Abitur, machte eine kaufmännische Ausbildung und blieb in der Firma für über 20 Jahre. Ich war verheiratet, habe eine Tochter (damals 10 Jahre alt), als im Jahr 2007 meine Mutter starb. Ich gab meinen Teilzeitjob auf, versorgte meinen Vater mit. Er wurde 2010 ein Pflegefall mit Demenz und Parkinson. Ich brachte ihn in einem Altersheim unter, wo er 2017 verstarb.
Ich konnte die Geschehnisse nicht verarbeiten, hatte keinen Kontakt zu mir selbst, keine Selbstliebe. 2013 trennte ich mich von meinem Mann, ließ meine Tochter bei ihm zurück und ging 2014 mit meinem jetzigen Lebensgefährten ins Rheintal - 10 km vor Heidelberg. Mitte des Jahres 2015 ging es dann rapide in eine Depression. Von Anfang Dezember 2015 bis Ende Januar 2016 war ich in einer Klinik im Allgäu, um wieder zu mir zu kommen. Ich war damals so stark introvertiert, so stark in mich zurückgezogen, dass ich dachte, es gibt mich jetzt nicht mehr. Suizidgefährdet war ich damals auch. Erst nach dem Klinikaufenthalt begann ich mich intensiv mit meiner eigenen Geschichte zu beschäftigen.
Heute weiß ich, dass mir der Rückhalt meines Vaters immer gefehlt hat und auch, dass ich mich nicht abnabeln konnte. Erst jetzt - lange nach dem Tod meiner Mutter - stehe ich wieder (fast) auf eigenen Füssen. Vom Februar 2017 bis Februar 2018 konnte ich über die deutsche Rentenversicherung ein berufliches Training absolvieren, das mich wieder sehr gut auf die Beine stellte. Im März 2018 zogen wir ins Allgäu, wo ich umgehend meine Bewerbungsaktivitäten aufnahm. Ich war inzwischen 52 Jahre. Und seit 10 Jahren aus dem Beruf. Ich strebte eine Teilzeitstelle an, bekam aber nur Absagen. Ich hatte keine Chance mehr.
Im Oktober 2018 beschlossen mein Lebensgefährte und ich, in die Tschechische Republik auszuwandern. Er ist Tscheche. Mein Traum von einem Mann aus dem osteuropäischen Raum ist wahr geworden.

Antje K., geb. 10.10.1965, Juli 2019

 

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Der 7. September 2018

Der 7. September 2018, 10:10, wird ein Datum sein, dass ich wohl nicht so einfach vergessen werde können. An diesem Datum ist nichts besonderes. Doch ab diesem Moment ist mein Leben nicht mehr das, das es war.

Es ist der Zeitpunkt der Sendung "Vererbte Wunden" in der Reihe "Lebenszeit" des Deutschlandfunk. Gleich zu Beginn ist ein Liedermacher - Andreas Süßkow, dem akustischen Vernehmen nach - zu hören, der von den "steinernen Tränen, die ich trage" singt:

»Die ungeweinten Tränen,
die trägt jetzt Dein Kind.
Auch wenn sie längst
steinhart geworden,
ganz schwer zu finden sind.
Wie fang' ich die Vergangenheit ein?
Wie kann ich mich davon befreien?«

Ich stehe Konzepten wie "Hochsensibilität" und ähnlichem durchaus skeptisch gegenüber. Für mich sind Lösungsansätze, die mir allzu "praktisch" vorkommen und sich irgendwie dann doch jeder darin wiederfinden kann und eine Generallösung für alle Probleme haben, zu einfach. Zu einfach für mich.

Nach der Sendung mit Dr. Marianne Rauwald und Sabine Bode denke ich zwar nicht anders darüber, bin allerdings um eine prägnante Erfahrung reicher, die ein Konzept wie "Hochsensibilität" in einem anderen Licht erscheinen lässt.

Bereits nach dem Lied flossen die Tränen, still und nicht allzu viele und eher die der Erleichterung denn die der Trauer. Denn irgendwo in mir erhellte sich etwas, eine dunkle Ecke, ein verborgener Raum. Die steinernen Tränen wurden greifbar, begreifbar und damit: handhabbar.

Der Vorhang hob sich: Die Szenerie, für mich das Schlussbild einer Tragödie, zeigt auf der linken Seite eine geöffnete dunkelbraun-schwarze Truhe mit Hakenkreuz darauf. Vielleicht hatte sie einmal eine Nazi-braune Farbe, doch an ihr ging die Zeit auch nicht spurlos vorüber. Im Hintergrund dieser nun geöffneten Truhe zeigen sich, wie ein Flächenhologramm, schwarz-weiße Kriegsbilder in Endlosschleife: einschlagende Bomben, gefallende Soldaten, verängstigte Menschen. Bilder, wie man sie aus einschlägigen Dokumentarfilmen kennt. Die Bilder reichen über 1950er Wirtschaftswunderszenen, da zuweilen auch farbig, bis in die Zeit des Mauerbaus: Prägnantestes Bild dieser Zeit ist die sich auf der Flucht im Stacheldraht der deutsch-deutschen Grenze verfangende Frau.

Rechter Hand dazu zwei Gräber, "Mutter", "Vater", mit eben den besungenen steinernen Tränen darauf. Die ich, nachdem ich den Mut gefunden, sie anzufassen, sie aus der Kiste zu holen, dort hingelegt habe, denn dort gehören sie hin. Eine unglaubliche, aber nicht zu leugnende Entlastung und Erleichterung ist zu spüren.

Was meinen Eltern widerfahren ist, weiß ich nicht, in der Familie wurde über die Zeit ihrer Kriegskindheit und frühen Jugend (Jahrgänge 1931 und 1933, Dessau und Berlin) nicht gesprochen und auch jeder Versuch, das Thema zur Sprache zu bringen, unterbunden. Der Großvater gehörte wohl schon zur Zeit des Ersten Weltkrieges als Offizier zum Militär.

1961 und 1962, dem Jahr meiner Geburt, flüchteten die Eltern einzeln aus der DDR. Über dieses Land wurde geflucht und gescholten; was es für meine Eltern bedeutete, von dort zu fliehen und von ihren Familien getrennt zu sein, darüber wurde allerdings genauso geschwiegen wie über die Kriegsjahre. Für mich blieb der Hass doch recht unerklärlich. Die DDR war das Land, in dem meine Verwandtschaft vor allem seitens des Vaters wohnte und mit der nur mit großen Schwierigkeiten in Kontakt zu treten war. Eine schlichte Lebensrealität.

Mein Leben wäre wohl gänzlich anders verlaufen, hätte es einen intensiven Kontakt zur Verwandtschaft geben können. So prägten allein die engen und eben von Faschismus geprägten, ich muss es so schroff sagen: kleingeistigen Sichtweisen meiner Eltern meine Weltauffassung. Zuweilen zeigte sich diese Prägung, die meinen Eltern selbst vielleicht gar nicht bewusst oder eben verdrängt o.ä. worden war, in Äußerungen und Verhalten. Verdrängtes mag nicht bewusst sein, doch es wirkt.

Ich habe einige der Geschichten hier gelesen und möchte meine nur in dieser groben Sicht anfügen, denn weitere Details wären nichts anderes als eine Wiederholung von bereits Geschildertem.

Die Er-Lösung ergab sich für mich in dem eigentlich schlichten Umstand, dass ich mich nach der Sendung zu etwas verhalten konnte, was bis dahin nicht möglich war und aus dem Dunklen, der Unerkennbarkeit heraus und wegen dieser, seine tragische und verheerende Wirkung entfaltete. Damit, mit diesem mich dazu verhalten können, war der Bann gebrochen und ich werde durch die Traumata meiner Eltern nicht mehr verhalten, weder im Sinne des Bestimmtseins noch im Sinne der Hemmung.

Doch waren sie wirklich traumatisiert? Oder einfach nur, vielleicht "stille", Nazis, geprägt durch ihr Umfeld in dieser Zeit, was angesichts der damals herrschenden Ideologie ja schon traumatisch genug wäre? Ich weiß es nicht, beide sind verstorben. Ich werde es nicht klären können und will das auch gar nicht, weil es letztlich für mich ohne Relevanz ist: Die Wirkung ist so oder so oder auch ganz anders immer die gleiche. Und mit der Wirkung habe ich zu tun. Die Ursache ist Sache meiner Eltern. Das hätten sie zu klären gehabt, nicht ich. Mir blieb nur die konsequente Distanz, um nicht immer wieder auf's Neue "in aller Stille" belastet zu werden. Was die Unerträglichkeit der Tränensteine allerdings auch nicht auflöste.

Mir erscheint dieses übernommene oder übergebene oder sich ergebende "Fremdtrauma", oder, freier gesprochen, die Last, das Leid und die Qual dieser Kriegs- und Folgejahre wie ein "Urtrauma": All die problematischen Erlebnisse, die ich hatte, der Lebenslauf mit scharfen Ecken und Kanten, übersät mit Brüchen, stehen und steht nun in einem Licht der Begreifbarkeit, Sagbarkeit, Erklärbarkeit. Der bis zu diesem Tag der Sendung nagende und quälende Selbstzweifel und das Gefühl der Ungenügendheit sind ausgelöscht und all die verbannten Qualitäten, die mich auszeichnen aber wegen des Exils nicht zur Entfaltung kommen konnten, die Potentiale also, die in großem Widerspruch zumindest mit den gelebten Möglichkeiten meiner Eltern standen, kehren heim, werden spürbar, beginnen Kraft zu entfalten. Sie Wirken.

Ich verstehe noch nicht, wie es dazu kommen konnte, dass ich sie nicht bereits in jungen Jahren entfaltet habe, "natürlich". Meine Vermutung ist, dass das Ausleben meiner Qualitäten auch gegen den Widerstand meiner Eltern mich wohl in eine Lage des Verhungerns gebracht hätte. Die Vorstellung ist drastisch und dramatisch, doch vielleicht spricht da, gibt sich Ausdruck, ein Aspekt des Traumas meiner Eltern. Das Traumatische der Kriegs- und Nachkriegszeit, der sie wohl schutzlos ausgeliefert waren.

Freilich werde ich die Spuren jahrzehntelanger Ohnmächtigkeit nicht aus meinem Leben löschen können. Doch meine Potentiale, so spüre ich deutlich, waren in Sicherheit und warteten auf dieses Moment, um wieder in Erscheinung treten zu können. Sie werden sich nun entfalten können. Was mich etwas verunsichert, denn gewohnte Denk-, Fühl- und Wahrnehmungsweisen werden sich verändern. Und freilich werden diese Potentiale eine ganz eigene Form finden. Eine Gestalt, die mit jenen "normalen" Formen, die sich bei unbelasteten oder - sei's aus Anlage, sei's aus Lebensumständen heraus - widerstandsfähigeren Persönlichkeiten meiner Generation bereits in Kindheit und Jugend ungestört entwickeln konnten, nicht vergleichen lassen wird.

Und kann es also sein, das "Hochsensibilität" die Folge eines Dauerstresses durch ein unauflösbares Trauma ist und kein unveränderliches Persönlichkeitsmerkmal? Einem "doppelten" Trauma, sozusagen, bestehend aus den Ereignissen als solchen und der Unauflösbarkeit, der Uneinordbarkeit des Leidens unter diesen Ereignissen, die ja selbst nicht erlebt wurden. Da die Ursache dafür nicht bei sich selbst zu finden ist und also aus eigenem Verhalten oder Lebensereignissen heraus nicht erklärt werden kann. Es war für mich Glück, Zufall, vielleicht sogar auch Geschick, die Möglichkeit eines ungeahnten Erbes anerkennen zu können - wenngleich ich wohl auch bereit war. Dafür wie dazu.

Doch letztlich spielt auch das keine Rolle. Aus meiner Einsamkeit wird Einzigartigkeit, aus meiner Ohnmacht Begreifbarkeit, aus der Einsichtbarkeit, das Erhellen können des Dunklen, Unausgesprochenen, Verschwiegenen, Verdrängten, Abgespaltenen wird Kraft.

Ich freue mich auf mich und "meine Kinder", die sich verängstigt ins Exil geschickt haben, sich dissoziiert haben, um der Zerstörung durch eine dauernde Bedrohung einer unbekannten, dunklen, "bösen" Macht in mir zu entgehen und nun wieder eine Heimat haben, mit der sie sich assoziieren können, wo sie unbeschwert sein können. Kinder, die nicht fürchten müssen, Steine schleppen zu müssen. Fremde Steine. Sondern Kinder, die Häuser bauen. Stätten des Lebens, des Sinns, der Freude.

Nur eines dieser Kinder blieb in dieser Tragödie standhaft, zäh, ausdauernd und wohl trotz allem zerstörerischen Selbstzweifel und quälenden Ungenügendheits-Ängsten von einem tiefen Glauben an die "Richtigkeit" von sich beseelt, und flüchtete nicht vor dem Kampf um's eigene Glück, auf der Bühne des Nottheaters, bis zum letzten Akt: Ich. Es darf und kann sich nun ausruhen, der eigene Auftrag ist erfolgreich erledigt.

Einer musste die Stellung halten, um den anderen die Heimkehr zu ermöglichen. Kriegssemantik gegen den inneren, aber fremden Krieg. Gift.

Gegen Gift.

Abgang. Vorhang. Geschichte. Leeres Theater, volle Straßen. Frieden.

Nicolaus, September 2018

 

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Meine traurige Geschichte

Ich wurde am 6. Juli 1968 geboren. Mein Vater erblickte das Licht der Welt 1938 im Ruhrgebiet und meine Mutter 1947 auf der Flucht aus Tschechien nach Bayern. Vater war Zeit seines Lebens schwerst traumatisiert und leidet immer noch unter extremen Verlustängsten und daraus resultierendem Kontrollzwang. Im Gegensatz zu meiner unvergessenen Mutter, die letztes Jahr nach schwerer Krankheit verstarb, hatte er keine Familie, die ihm Halt gab und dabei half, erlebte Grausamkeiten aufzuarbeiten. Sein Vater kam erst 195… aus der Gefangenschaft und seine Mutter als gebrochene Frau machte bei der Erziehung nach dem Krieg so ziemlich alles falsch was es nur falsch zu machen gab.

Mutter entstammte einer Vergewaltigung und wurde bei den Großeltern erwachsen, die ihr wenigstens Liebe und Geborgenheit gaben. Und das trotz der Erfahrung, in 2 Weltkriegen alles verloren und zum dritten Mal neu angefangen zu haben. Wie das Schicksal nun so wollte lernten sich beide kennen und verliebten sich ineinander. Unbedachtem Sex folgte eine Notheirat und das Kind, welches dazu führte, kam tot auf die Welt. Mein Vater gab mir, obwohl ich anschließend ehelich gezeugt wurde, stets die Schuld daran, dass er heiraten musste und sein Leben angeblich total versaut sei.

Somit war ich der Bastard, das Nichts und als Linkshänder und ADHS Kind das unleidliche und schwer erziehbare Stück Dreck, das es galt täglich zu entwerten, zu schlagen und mit Verachtung zu strafen. All die Prügel und erniedrigenden Worte sorgten dafür, dass ich fast meine gesamte Kindheit bis hin zum 21. Lebensjahr unter unmenschlicher Migräne litt und täglich Angst vor den unberechenbaren Macken meines Vaters hatte. Er schlug mich oftmals fast tot, trat mir in den Bauch und gegen den Kopf, erklärte meinen Lehrern ich wäre gefallen und würde lügen, sollte ich etwas anderes erzählen.

Ich war heilfroh, als ich die erstbeste, ebenfalls durch die Familie geschädigte Frau kennenlernte und diese dann zwecks gemeinsamer Bewältigung unserer Probleme heiratete. Der Schuss ging nach hinten los, wir als traumatisierte und von unseren Vätern ungeliebte Kinder hatten viel zu sehr mit uns selbst zu kämpfen, als dass wir gemeinsam hätten glücklich werden können. Mit Anfang 30 wurde ich geschieden und merkte, das Leben eines Narzissten und Gewalttäters zu führen, indem man seine Unarten zu eigenen Handlungsweisen machte, das durfte nicht mehr sein und ich krempelte mein eigenes Leben komplett um, die Narben auf der Seele blieben. Der Schmerz, ein gebrochener Mensch ohne Selbstbewusstsein und Hoffnung zu sein, ebenfalls!

Vater unterband die nächsten fast 3 Jahrzehnte fast jeglichen normalen Kontakt zwischen Mutter und mir. Kein Problem durfte ich mit Mutter bereden, stets musste sie aus Angst vor Schlägen und seinen Launen vor ihm kuschen. Nur seine Probleme waren es wert beachtet zu werden. Mutters und meine Bedürfnisse waren ihm nicht nur egal, sondern er verbot Mutter den Mund. Machte sie es nicht und hielt zu mir oder wollte mich moralisch unterstützen, so bekam sie Schläge oder wurde über Wochen psychisch dermaßen tyrannisiert, bis dass sie klein beigab und den Kontakt zu mir abbrach.

Wie kann ein Mensch nur so grausam sein, seinen eigenen Sohn und seine angeblich geliebte Frau wie Sklaven, Dreck und Fußabtreter zu behandeln? Er nahm mir meine Mutter, selbst als sie im Sterben lag wusste mein Vater noch sein Ego über ihres zu stellen und ihr Barmherzigkeit und Würde zu verweigern, weil kein Pflegedienst in mein Elternhaus durfte. Sie war nicht mal kalt, da sinnierte er schon darüber, wie teuer die Beerdigung würde und dass der Pflegekram schnellstens abzuholen sei.

Mir fehlen einfach nur die Worte welch Bosheit in meinem Vater steckt und wie sehr er seine Familie durch Tyrannei, Hass und Neid überall schlecht machte. Lügen verbreitete er bei meinen Freunden, Bekannten, Nachbarn, den Schwiegerleuten. Ja sogar vor meinen Arbeitskollegen machte er nicht einmal Halt um mich überall ins Abseits zu befördern. Das mir wegbrechende soziale Umfeld und die mir damit bereiteten Probleme quittierte dieser Unmensch mit hämischem Lächeln und besserwisserischen Kommentaren, ich sei ja eh jemand den keiner leiden könne.

Seit 3 Jahren bin ich nun in Erwerbsminderungsrente, weil ich psychisch ein Wrack bin, ich unter einer Vielzahl an Nervenstörungen leide und darüber hinaus mein Körper durch Bluthochdruck geschädigt wurde. Mein Vater ist erst dann zufrieden, wenn ich vor ihm sterbe, denn ich habe kein Glück im Leben verdient, ich soll verrecken wie ein dreckiger Straßenköter, so sein größter Wunsch! Aber einfordern kann er alles, was er Mutter verwehrte. Wie ich mit meinem Hass fertig werde, das ist diesem Tyrannen egal. Mir aber nicht, dass ich ihn überleben will, koste es was es wolle!!!!!

G., September 2018

 

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Geflohen 1970

Ich bin 1969 geboren, meine Schwester 1967. Als ich ein Jahr alt war, sind unsere Eltern mit uns geflohen, und zwar vom äußersten Norden Deutschlands in den tiefsten Süden. Dass es eine Flucht war und kein normaler Umzug, habe ich erst durch die Beschäftigung mit der Kriegsenkel-Thematik verstanden.

Mein Vater ist Jahrgang 1940, meine Mutter 1942. Von der Kindheit meiner Mutter weiß ich nicht viel, außer dass der Vater Alkoholiker und die Familie arm war.
Mein Vater ist mit drei Geschwistern auf einem großen Hof aufgewachsen. Mein Opa ist im Krieg gefallen, als mein Vater vier Jahre alt war. Die Oma hat später wieder geheiratet, der neue Mann hat die Kinder misshandelt, angeblich hat die Oma das nicht gemerkt.
Der Hof wurde an meinen Onkel vererbt, und mein Vater wollte nach dem Studium möglichst weit weg von seiner Familie und dem verlorenen Elternhaus.

So sind wir zwei kleinen Mädchen im Allgäu gelandet, den verletzten, traumatisierten Eltern ausgeliefert, ohne Verwandtschaft in der Nähe. Auf den Fotos von früher sehe ich niedliche Kinder, hübsch angezogen, in einem schönen Haus mit großem Garten. Doch erst jetzt verstehe ich, was hinter den Kulissen passiert ist. Unser Vater hat eine narzisstische Persönlichkeitsstörung, wir konnten ihm nie etwas recht machen, es ging nur um Leistung, wir hatten ständig Angst vor ihm. Unsere Mutter war immer liebevoll, konnte uns aber nicht vor dem Vater schützen. Sie setzte alle Hoffnung auf die Erlösung durch Jesus, und wurde chronisch krank.

Meine Schwester leidet seit Jahren an Angststörungen und Depressionen, ich bin 12 mal umgezogen, habe es immer nur ein paar Jahre an einem Arbeitsplatz ausgehalten und viele gescheiterte Beziehungen hinter mir.
Zum Glück entdeckte ich vor einigen Jahren mit Sabine Bodes „Kriegsenkel“-Buch den Grund für die Schwierigkeiten in unseren Biografien. Inzwischen habe mich intensiv mit dem Thema beschäftigt und kann nun endlich frei leben. Ich fühle mich nicht mehr verantwortlich für das Glück meiner Eltern, denn ich kann sie sowieso nicht retten.

Meine Eltern leben noch, ich musste aber den Kontakt auf ein Minimum reduzieren, um meine Grenzen zu wahren. Leider lässt sich mein Vater auf keine Gespräche bezüglich seines Daseins als Kriegskind ein, er hält weiter fest an seinem starren Gerüst, das er sich damals gebaut hat, um zu überleben. Ob es noch zu einer Versöhnung kommen kann? Ich wäre bereit dazu, habe die Hoffnung aber fast aufgegeben.

D., März 2018

 

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Ich erinnere mich daran

Ich bin 1972 geboren, mein Vater 1938, meine Mutter 1940. Meine Kriegsenkelgeschichte betrifft meinen Opa väterlicherseits, der 1945 vom NKWD verhaftet und in dessen Gefangenschaft in einem Speziallager 1947 verstorben ist. Mein Vater war bei der Verhaftung, die Zuhause stattfand, dabei. Die Männer waren in Zivil und mein Opa sagte zu ihm, dass er verreisen müsse. Meine Oma hat ihren Mann bis 1951 gesucht und versucht, etwas über seinen Verbleib zu erfahren, bevor sie dann ohne Ergebnis mit meinem Vater und seinen drei Geschwistern zu einer Verwandten nach West-Berlin geflüchtet ist.

Erst durch eigene Recherchen habe ich von alledem 2009 erfahren, die Überreste der Lager und Archive besucht, und konnte mir so nach und nach meine eigenen Ängste und Hemmnisse im täglichen Leben und meine quälenden Träume erklären. Ein Beispiel: Ich habe jahrelang geträumt, ich würde verhaftet und missbraucht werden, bin regelmäßig nachts aufgewacht und habe geglaubt, da ist jemand im Nebenraum, der kommt, um mich zu abzuholen.

Unterstützt wurde ich bei meiner Aufarbeitung durch meine Psychotherapeutin. Heute geht es mir besser, aber meinen Opa ganz aus mir raus zu bekommen fällt mir noch immer schwer. Ich möchte mit dem folgenden Text allen Betroffenen Mut machen, ihre Gefühle ernst zu nehmen und ihnen nachzugehen, um sich selbst von dem befreien zu können, was zu ihnen gehört, aber nicht ihr Leben bestimmen sollte.

Ich erinnere mich daran,

dass ich nackt auf einer Pritsche aus moderigem Holz gelegen habe. Viele Stunden, Tage und Monate. Nach anderthalb Jahren kenne ich jede Unebenheit meiner Unterlage. Ich weiß wie ich mich betten muss, damit keine neuen Splitter abblättern. Das ist nicht so einfach wie es klingt. Meine Haut ist jetzt dünn wie Pergamentpapier. Sie spannt sich über meinen Leib und hält notdürftig alle Knochen zusammen. Manche Stellen nässen vom Eiter. Bei anderen kann ich zusehen wie sie langsam aber sicher von alleine aufreißen. Sie erinnern mich an die Seenlandschaft, aus der ich stamme. Jede Wunde wird zur Sehenswürdigkeit, die ich einzeln benennen kann. So vertreibe ich mir die Zeit.

Ich erinnere mich nicht mehr daran,

wann ich zuletzt etwas gegessen habe. Der Hunger schmerzt noch mehr als das Liegen auf der Pritsche. Er nagt an meinem Verstand. Manchmal weiß ich nicht mehr, ob die gefühlten Nagelstiche in meinem Körper von innen oder von außen herkommen. Eigentlich ist es auch egal. Hier im Lager gelten sowieso andere Gesetze. Abgemagerte Gestalten backen aus Sägespänen Brot. Gestandene Männer beißen in das Holz, um den Geschmack von Wasser herauszupressen. Viele streiten sich im Schlaf wegen eines verbliebenen Hühnerknochens.

Ich erinnere mich daran zu vergessen, dass es einmal anders war.

Sabine, Januar 2018

 

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Werde Frei!

Seit meinem Beitrag „Befreiung?“ vom November 2015 sind schon wieder zwei Jahre vergangen. Doch nun lässt das Vergangene endlich los. Nachdem ich im Sommer 2016 „beschlossen“ hatte, mir mit 57 Jahren einmal eine Kur zu „gönnen“, hat sich etwas entwickelt, das ich als Weg zum inneren Loslassen wahrnehme.

Eine Kur ist ja nur möglich, wenn ein „Leiden“ vorliegt. Obwohl unser „Leiden“ als Kriegsenkel als solches ja bereits genügen müsste, uns einmal eine Pause, eine Auszeit vom verzehrenden Alltag zu ermöglichen, begründet dies „Krankheitsbild“ noch keinen Anspruch auf Leistung. Insoweit war ich „froh“, dass ich mit „Reizdarm“, „Rückenschmerzen“ und anderen „Gebrechen“ aufwarten und auf eine verständnisvolle Ärztin treffen konnte. Nach vier Wochen im Südschwarzwald fühlte ich mich ganz geerdet und gut erholt. Leider war dieser Zustand nicht von Dauer. In meiner anschließenden „Nachkur“ zu Hause ist mir so viel bewusst geworden, was ich in den letzten Jahrzehnten mir gegenüber versäumt habe und wie „nachlässig“ ich mit mir umgegangen bin, dass ich erst richtig „krank“ wurde.

Dann hatte ich das Glück, in eine kleine Fachklinik im Südschwarzwald gehen zu dürfen. Und dieser Aufenthalt hatte es in sich. Ich wusste, dass ich mir in meinem Leben bereits „alles“ angeschaut hatte und wollte daher in der Therapie noch einmal ganz von vorne beginnen. Und siehe da, gleich nach meiner Geburt und in den darauffolgenden Monaten bin ich fündig geworden. Im Tagebuch meines Vaters aus dieser Zeit steht ja über meine ersten Lebensmonate:

„Anfang April (Anm.: da war ich gerade fünf Monate alt) haben wir mit dem täglichen Luftbad in dem großen Obstgarten bei uns begonnen. Ob es sonnig ist oder der Himmel bedeckt, immer kommst Du von Mittag bis Abend mit Deinem Wägelchen in den Garten. Wie oft schleichen Mutti und ich in Deine Nähe, um Dich zu beschauen. Die Luftbäder bekommen Dir ausgezeichnet und mitunter liegst Du ganz nackig und strampelst ganz lustig vor Freude. In dem großen Garten hinter dem Hause in Berlin ist für Dich ein herrlicher Platz. Dort wirst Du jeden Tag von Mutti oder von mir hineingestellt. ... So lange Du noch still in Deinem Wägelchen liegst, bist Du ganz alleine im Garten. Mutti kommt dann schnell nach Hause, säubert und füttert Dich und fährt dann mit dem Fahrrad wieder zur Arbeit. ... Mein Weg ist immer noch zur Universität, ich muss lernen und studieren, doch nehme ich einen kleinen Teil an Deinem Gedeihen, in dem ich Dich versorge, wenn ich zu Hause bin. ... In diesen Tagen, es war um den 20. August, konnten wir im Garten Dich nicht zur Ruhe bringen. Du begannst Dich im Wägelchen aufzurichten. Einmal versucht, nahm es dann kein Ende mehr. Du glaubest wohl, jetzt verpasse ich alles was sich um mich abspielt. Wollten wir fortgehen, so richtest Du Dich sofort wieder selbst auf und schautest nach uns. Ich versuchte ganz schlau zu sein, indem ich schnell fortlief, es half nichts, sofort fingst Du erbärmlich an zu schreien, wenn niemand sich zeigte. Wir wußten schon nichts mehr anzufangen, so verzweifelt schien uns die Situation. ... Am liebsten aber war es Dir, wenn jemand in der Nähe war, dann „unterhieltst“ Du Dich ganz alleine, schnurrtest wie ein Kätzchen.“

Obwohl ich die „Tatsachen“ seit langem kannte, begann ich nur langsam, sehr langsam, zu verstehen und zu fühlen, was da eigentlich dahinter steckt. Für mich ist es die ewige, lebenslange Erfahrung, dass mir kaum Zuwendung zusteht. Damit bin ich schon als Baby konfrontiert gewesen, als Mutter und Vater mich mit fünf Monaten täglich von Mittag bis Abend in meinem Kinderwagen alleine in einen etwa 150 m entfernt von unserer Dachgeschosswohnung im Innenbereich des großen Häuserblocks gelegenen Garten unter zunächst blühenden Kirschbäumen abgestellt und mich erst wieder im Oktober (und bei Gewitter, Regen und schlechtem Wetter) in die Wohnung geholt haben.

Beim Lesen dieses Ausschnittes aus dem Tagebuch war mir noch einmal bewusst geworden, wie ich nur sehr langsam und behutsam in der Lage bin, Schicht für Schicht dieser Konditionierung abzutragen. Als ich las, was mein Vater schrieb „Am liebsten aber war es Dir, wenn jemand in der Nähe war, dann „unterhieltst“ Du Dich ganz alleine, schnurrtest wie ein Kätzchen.“ verstand ich meine frühkindliche Konditionierung immer, immer besser.

Ja, ich war monatelang in einem „schönen“ Garten abgestellt, niemand hat mein Rufen, mein Weinen, mein Schreien wahrgenommen. Niemand ist gekommen, wenn ich atemlos und schluchzend in meinem Wägelchen lag und mich nach Zuwendung und Trost dürstete. Wenn ich dann endlich wieder in der Wohnung lag, war ich zufrieden, dass überhaupt jemand da war und „schnurrte wie ein Kätzchen“. Daher reichte mir bisher ja auch die bloße Anwesenheit von Menschen aus, mich „in Sicherheit“ zu fühlen und damit „zufrieden“ zu sein. Mehr stand mir ja ohnehin nicht zu.

Heute nun merke ich, wie mich dieses ursprüngliche Lebensscript überformt und in Strukturen festgehalten hat, die mir „bekannt“ waren und mir ausgereicht haben. Insoweit habe ich dies ja auch jahrzehntelang nicht hinterfragt und mich mit dem Zustand abgefunden.

Glücklicher Weise hat mein Körper gegen all das revoltiert und mich schließlich auf den Weg geführt, den ich derzeit gehe. Meine „ärztliche“ Diagnose lautet ja auch nicht mehr „dies und das“ oder „krampfartige Oberbauchschmerzen“, sondern „posttraumatische Belastungsstörung“. Und das trifft es auf den Punkt. Ja, ich bin als Baby traumatisiert worden. Das hat sich bei mir tief, tief eingegraben. Erst die letzten Monate, beginnend mit der Kur, über die Fachklinik, die vielen Therapien und schließlich auch mit dem Kontakt und regen Austausch mit einfühlsamen Menschen haben bewirkt, dass ich aus der wachsenden Sicherheit heraus, endlich – auch allein und getrennt von Mutter und Vater und ohne „Dauerwiederverschmelzungssehnsucht“ – für mich da sein zu können, Schicht für Schicht dieses Traumas abtragen und fühlen und spüren kann, was mir damals eigentlich geschah. Darüber trauere ich immer mal wieder. Dass ich das noch einmal mit dem Schreiben diese Zeilen erleben und mit Tränen nachfühlen darf, empfinde ist als ein Geschenk an mich.

All das konnte ich aber erst erfahren, als das Thema „Kriegsenkel“ für mich bearbeitet war und insoweit nicht mehr im Vordergrund meiner Aufmerksamkeit stand. So haben die Alten dann doch bewirkt, dass ich mich selbst jahrzehntelang nicht sehen und erkennen konnte und daher auch über mich „geschwiegen“ habe. Nun ist der Knoten endlich geplatzt und ich bin dankbar und werde frei!

S.G. November 2017

 

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Kriegsenkel.

Immer noch im Krieg

Ich wurde 1960 geboren, mein Bruder 1964. Meine Eltern, beide 1932 geboren, haben den Krieg als Kinder erlebt. Beide mussten mit ihren Eltern nach dem Krieg aus Pommern bzw. Westpreußen fliehen.

Meine Mutter, autoritär und streng hatte zu Hause das Kommando. Mein Vater, unselbständig und schwach war für die ein drittes Kind.

Ich weiß nicht wie oft ich die Geschichten von Flucht und Vertreibung gehört habe, aber manchmal habe ich das Gefühl gehabt, selbst dabei gewesen zu sein. Dazu das Gerede und das Gejammer über die verlorene Heimat. Auch da habe ich gedacht, meine Heimat sei im Osten. Dazu immer das Gefühl, selbst verantwortlich zu sein für den verlorenen Krieg. Mein Vater, obwohl selbst zu jung für den Krieg war immer noch begeistert von den Wochenschauaufnahmen. Immer wieder erzählte er uns wie toll die Flugzeuge doch waren und was für wagemutige Kerle die U-Bootfahrer doch gewesen sein mussten. Manchmal gab es kein anderes Thema. Meine Mutter wollte die perfekte Familie, alles zuhause perfekt sauber und ordentlich. Dass ich, wohnortbedingt keine Freunde hatte war ihr egal. Sie musste ihre Aufgabe erfüllen, da war kein Platz für Vergnügen. Ich habe diese Zeit gehasst und ich hasse sie immer noch.

Ich verstehe, dass Menschen die im Krieg ausgewachsen sind so denken und reden, aber was sie aus ihren Kindern, den Kriegsenkeln gemacht haben ist fast ein Verbrechen. Ich kenne viele Männer aus meinem Jahrgang, die auch Kriegsenkel sind, und viele sind im Leben gescheitert. Beziehungsunfähig, Alkoholiker, voller Schuldgefühle und Depressiv. Sie versuchen immer noch das zu verstehen und alles wieder heile zu machen und irgendwas gut zu machen. Und ich versuche das auch oft noch. Dabei war ich gar nicht dabei, und das ist das schlimme. Wie soll ich eine Schuld wett machen, wenn ich gar nicht weiß worum es eigentlich geht? Meine Eltern haben es sich einfach gemacht. Sie haben alles erzählt und ihren Müll abgeladen, und ich war der unfreiwillige Therapeut. Ohne Ausbildung, und viel zu jung.

Ich leide immer noch darunter, obwohl meine Eltern inzwischen tot sind. Die Gedanken kommen immer wieder, als wenn es eigene Erlebnisse sind. Das schlimme war, dass man nichts dagegen sagen durfte, dass einen das nicht interessiert. Sie haben einen dazu genötigt, weil sie einen Schuldigen brauchten, der ihnen das alles eingebrockt hat. Die wahren Schuldigen waren zu dem Zeitpunkt tot oder haben sich aus der Verantwortung gestohlen.

Ich hasse es, zu dieser Generation zu gehören, aber ich habe keine andere Wahl. Auch ich bin Beziehungsgestört und habe nie geheiratet und keine Kinder. Ich habe für die Erlebnisse meiner Eltern mit meinem Leben zahlen müssen, und dafür werde ich sie bin ans Ende meiner Tage abgrundtief hassen. Das war noch schlimmer als Missbrauch, weil es subtiler war. Ohne sichtbare Spuren, ohne Narben. Die Narben sind auf der Seele, und niemand will sie sehen. Ich habe mir schon oft gewünscht ich wäre selber tot, damit ich das nicht immer wieder durchmachen muss. Die Alten haben ihren Frieden, aber nur auf Kosten ihrer Kinder.

Ich kann den Alten dafür nicht vergeben, niemals. Ich kann es verstehen, aber wie sie andere, und dazu noch ihre eigenen Kinder dafür verantwortlich gemacht haben ist geradezu widerlich. Das ist mit nichts zu entschuldigen.

Christian. November 2017

 

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Das nebulöse Erbe der Donauschwaben

Ich bin ein Nachkriegskind, das im Oktober 1957 als jüngstes von drei Kindern in Ulm an der Donau geboren wurde. Das ist in zweierlei Hinsicht eigenartig. Mein Geburtsort war mit einiger Sicherheit die Stadt, von der aus meine Vorfahren (nach meinem bisherigen Wissensstand so um 1780) in die neue Heimat aufgebrochen sind und es war im Oktober, gerade mal 12 Jahre nach dem blutigen Herbst von Kovin.

Meine Eltern sind beide 1920 in eben diesem Kovin in der Vojvodina, unweit von Belgrad im heutigen Serbien geboren. Sie waren die Nachkommen von deutschstämmigen Siedlern, die zur Zeit der österreich-ungarischen Monarchie dort angesiedelt wurden, um das Land urbar zu machen.
1941 fielen Bomben auf Belgrad und das Land wurde von deutschen Truppen besetzt. Es kam zum Partisanenkampf, wobei die verschiedenen Partisanengruppen z.T. auch noch untereinander verfeindet waren. Der große gemeinsame Gegner war allerdings die SS-Division „Prinz Eugen“, die mit den damals „üblichen“ Methoden dagegen vorging.
Nach dem Rückzug der deutschen Wehrmacht kamen im Gefolge der russischen Armee die Partisanen zurück und Josip Broz bekannt als Marschall Tito begann sein kommunistisches Jugoslawien zu gründen. Er wollte einen kompletten Umsturz, einen Neuanfang und alles was ihm im Weg war wurde halt beseitigt, so auch die Volksdeutschen. In den sogenannten AVNOJ-Beschlüssen wurden alle Deutschen enteignet und ihnen gleichzeitig alle staatsbürgerlichen Rechte entzogen. Sie waren praktisch Freiwild. Was dann geschah, bezeichnet man heute als Völkermord.*
So kam es im Oktober 1945 zum blutigen Herbst von Kovin mit Massenhinrichtungen an Deutschen. Meine Mutter, mein Bruder (er war damals knapp 1½ Jahre alt) und meine Großmutter wurden im Vernichtungslager Rudolfsgnad interniert, was meine Oma nicht überlebt hat. Sie ist dort verhungert oder besser gesagt elendiglich verreckt. Wahrscheinlich liegt sie in den Massengräbern auf der Teleschka.
Nach Auflösung der Vernichtungslager (im Januar 1948) war noch immer nicht Schluss. Die Deutschen mussten sich das Geld für die Ausreisepapiere erst verdienen und kamen in Arbeitslager. Dort, im Lager Jabucki Rit zu deutsch Apfeldorf, fanden die Reste der Familie wieder zusammen.
Erst im Jahr 1954 kamen sie dann im Auffanglager Piding in Oberbayern an, so mein derzeitiger Wissensstand.

Das alles wusste ich nicht. Lange Zeit war ich der Meinung, sie seien lediglich abgeschoben worden. Abschiebelager ist zwar nicht lustig, aber auch nicht lebensgefährlich. Wo die väterliche Seite meiner Familie in dieser Zeit war, davon habe ich überhaupt keine Kenntnisse.
Was erwartete mich nun als Kind, als Jugendlicher in dieser Familie? Eigentlich ist es unbeschreiblich, denn von einer Frau, die derartig traumatisiert wurde ist eigentlich nichts mehr übrig.
Gefühlskälte, das ist das erste, das ich empfand. Meine Mutter geht regelrecht roh mit mir um, da ist mein Opa ganz anders.
Mutter und Vater sind eigentlich nie da. Sie arbeiten, kommen um 18:00 nach hause, dann wird gegessen und ich muss ganz brav sein, denn sie sind jetzt müde.
Diese Familie sah sich dazu gezwungen, mit aller Gewalt funktionieren zu müssen und genau das bekam ich zu spüren. Waren meine Eltern im Haus herrschte ständig eine gewaltige Anspannung.
Verstärkt wurde das noch durch kleine Randbedingungen, die eigentlich mehr oder weniger Zufall sind. So haben meine Eltern beide das Schneiderhandwerk gelernt und so hatte ich schon im Alter von 4 Jahren einen Maßanzug mit Weste und Fliege, den ich natürlich abgrundtief gehasst habe.
Hatte ich den an, durfte ich mich nicht mehr rühren und Sonntags wurde kein Schritt aus dem Haus getan, ohne dass ich ihn anhatte.
Gefühlskälte, Druck und Anspannung, das hat mein Leben bestimmt, wobei mein Opa vieles von dem kompensiert hat. Am schönsten war es wenn ich mit ihm im Bollerwagen in den Garten fahren durfte. Vieles habe ich von ihm gelernt, im Gegensatz zu meinen Eltern, die wollten nur ihre Ruhe haben...

Aber irgendetwas stimmt nicht in dieser Familie, das spürst du von klein auf ganz genau…
Ich hatte dafür aber keine Worte, konnte es einfach nicht ausdrücken. Lange Jahre hatte ich den Spruch drauf: „In meiner Familie komme ich mir vor, wie auf dem Finanzamt!“
Wenn du in einer kranken Umgebung lebst und das vom Beginn deines Lebens an, dann ist das so selbstverständlich, dass es dir als „normal“ erscheint.
Im Alter von 4½ Jahren entwickelte ich einen Sprachfehler und begann zu stottern. An einen Arztbesuch wegen dieses Stotterns kann ich mich nicht erinnern. Er wurde im Laufe der Jahre auch besser, aber Jahrzehnte später bin ich dann doch mal zum Logopäden gegangen…
„Sie haben keinen Sprachfehler, dieses Stottern ist reiner Stress, machen Sie Entspannungsübungen...“
Als ich in die Schule kam, habe ich drei Jahre lang sehr, sehr oft den Kaba, den ich zum Frühstück bekam wieder erbrochen. Ich hatte Angst in die Schule zu gehen, fühlte mich von den vielen Gleichaltrigen überfordert…
Wo kommt so etwas her? Heute weiß ich es. Es sind mangelnde soziale und emotionale Kontakte.
Es ist genau das, was ehemalige KZ-Häftlinge, ehemalige Gefangene aus Vernichtungslagern nicht mehr können…
Das war auch genau das, was meine Eltern immer und immer mehr taten: Alle sozialen Kontakte abbrechen, stattdessen sollten allerdings ihre Kinder für sie da sein…
Parentifizierung – Rollenumkehr, du wirst regelrecht dazu gezwungen, dich um deine Eltern zu kümmern.
Als meine Mutter es endlich geschafft hat, meine Großeltern (väterlicherseits) zum Ausziehen zu bewegen, bin ich zusammengebrochen. Ich war damals 13, meine Schwester schon in der Lehre und ich jeden Tag stundenlang mit meiner Mutter alleine. Ich wurde ihr Seelenmülleimer…
Angstzustände, Depressionen das kannte ich schon, aber was jetzt kam…
Mit 16 begann ich zu trinken, um mich wenigstens dadurch entspannen zu können und mit 23 war ich am Ende. Suizidversuch – Bezirkskrankenhaus – geschlossene Abteilung – 4 Monate Klapse….

Seither besteht mein Leben aus einer endlosen Kette von Versuchen aus diesem Teufelskreis herauszufinden und wie gesagt, gewusst habe ich zu diesem Zeitpunkt noch lange nichts.
Geändert hat sich das erst im Jahr 2007! Damals machte ich eine ambulante Therapie. Während so einer Therapiesitzung sagte mein Therapeut zu mir: „Also so wie Sie über ihre Familie reden, muss da etwas Furchtbares passiert sein, ein Mord oder so...“
Ich habe ihn angeschaut, wie ein Auto: „Bei uns ist doch nie…???“
Dieses Gespräch hat mich 14 Tage lang nicht mehr losgelassen. Dann habe ich einfach ein paar Ortsnamen in eine Suchmaschine eingegeben und als ich das Ergebnis sah, hat mich beinahe der Schlag getroffen. Damals war gerade die zweite Auflage des Buches „Der Völkermord der Tito-Partinsanen“ erschienen mit Leseproben im Internet. Und da stand es schwarz auf weiß…
Ich komme auf mehr und immer noch mehr.
Es gibt ein Buch von Sigrid Chamberlain: „Adolf Hitler, die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“
Dieses Buch ist für mich der Hammer. Es enthält auf das Komma genau, die Erziehungsmethode, die ich ganz persönlich erleiden musste, mit allen sich daraus ergebenden Konsequenzen.
Flüchten sich Eltern, flüchtet sich eine Mutter in ihrer Not in so einen Dreck, wenn sie feststellt, dass sie keine Gefühle und keine Liebe mehr in sich hat, oder waren sie am Ende…???
Ich weiß es nicht!
Meine Familie war ständig dabei sich auf den nächsten Krieg vorzubereiten, der Frieden wurde gar nicht mehr wahrgenommen und schon gar nicht gelebt. Alles, jeder Schrank war vollgestopft mit Kleidung. Nahrungsmittel und Geld wurden versteckt…
Wahrnehmen kann ich das alles erst seit ziemlich kurzer Zeit…
Ich bin an dem Punkt, des langsamen Begreifens. Verstehen, Verzeihen, das ist noch meilenweit entfernt.
Wahrscheinlich tue ich meiner Familie auch in vielen Dingen Unrecht, weil ich ihre Situation einfach nicht verstehen kann.
Und an dieser Stelle bekomme ich dann eine gewaltige Wut: Wie, verdammt nochmal, wie soll ich sie verstehen, wenn sie nicht mir darüber reden??? Wie soll das gehen?
… und wenn ich dann noch feststellen muss, das bekannte psychosomatische Kliniken noch nicht einmal Konzepte für diese Problematiken haben, die unsere ganze Gesellschaft betreffen, dann sehe ich darin meine Lebensaufgabe.

Leute, es ist höchste Zeit. Wir sollten endlich anfangen darüber zu reden.

Kriegsenkel Bad Neustadt / Saale – Günter Juni 2017

* dazu auch der Artikel von Götz Aly in der Berliner Zeitung vom 06.05.1999: http://www.berliner-zeitung.de/erinnerung-aus-gegebenem-anlass--der-voelkermord-an-den-jugoslawiendeutschen-1944-bis-1948-einmal-fuer-alle-zeiten-schluss-machen-16665728 – Anmerkung Forum Kriegsenkel

 

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Wie in einem Spinnennetz gefangen

Als Kriegsenkel kam ich 1960 mit einem Zwillingsbruder als fast Fehlgeburt mit Notkaiserschnitt auf die Welt. Angst vor dem Tod und Angst vor Jungs begleiteten mich seit ich denken kann. Ausserdem war ich schon als kleines Kind für das ganze Familiensystem verantwortlich, war Schuld wenn mein Bruder hinfiel, meine Mutter wütend, mein Vater traurig war. Ich wollte immer gut sein und helfen.

Si ta cuisses philosophus mansisses. Hättest du geschwiegen wärst du ein Philosoph geblieben, sagte mein Grossvater oft. Schweigen war angesagt. Die einzige Anerkennung war, perfekt in der Schule zu sein. Das nahm meine ganze Zeit in Anspruch. Die Angst vor Männern und Jungs wurde nur belächelt. Und so war ich die, die sich was zusammenspinnt. Es herrschte eine hohe aggressiv sexuelle Spannung in der Luft. Nach einem guten Abitur erfüllte ich den Familienauftrag, Ärztin zu werden, eigentlich wollte mein Grossvater und meine Mutter Ärztin werden. Ich war besessen davon ja keine Fehler zu machen, arbeitete bis zur Erschöpfung. Sogar am Wochenende versprach meine Mutter Nachbarn, dass ich immer da sei um zu helfen.

Ich geriet immer wieder in sexuell und emotional missbräuchliche Beziehungen und bezahlte immer für die Männer, damit ich bleiben durfte. Erst mit 45 Jahren anlässlich einer Massage, wo der Masseur plötzlich zwischen den Beinen herumfummelte und hauchte, er würde meine Kundalini aktivieren und sich dabei selbst befriedigte, kam ein flash back. Ich fühlte mich ganz klein und hörte die Stimme eines Familienangehörigen, der sagte: Du bist böse und wenn du jetzt aufstehen willst und es jemand sagst bringe ich dich um. Auch der strafende Gott, der alles sieht, ist tief verinnerlicht. Es dauerte 2 Stunden bis ich in der Lage war aufzustehen. Danach war mir klar, dass etwas in meiner Kindheit geschehen war. Als ich meine Mutter fragte gab sie nur zu Antwort: Es sei normal dass Männer dies tun. Somit war ich wieder allein. Als ich in die Wechseljahre kam hatte ich plötzlich das Gefühl, das KZ stand in meinem Zimmer. Ich hörte Todesschreie und immer wieder, du bist böse. Wenn ich an Orte kam, die in der Nähe eines KZ lagen ohne dass ich es wusste, musste ich anfangen zu weinen. Ich habe seit 4 Jahren Alpträume, starke Rückenbeschwerden und andere heftige körperliche Beschwerden und kann nicht mehr arbeiten. Ich war immer nur für andere da. Jetzt heisst es, ich sei egozentrisch. Aber ich kann einfach nicht mehr.

Mein Vater war bei der HJ und 5 Jahre in französischer Kriegsgefangenschaft. Mein Opa war bei der NSDAP aktiv, wurde entnazifiziert und war mehrere Jahre im tschechischen KZ. Mein Leben lang habe ich nur gearbeitet und war für andere da. Es gibt einen Teil in mir, der nicht glücklich sein darf und sich böse wähnt und bestraft werden sollte. Das ich dies alles spüre liegt an meiner Hochsensitivität. Ich weiss, dass es die Täterintrojekte sind, aber es hilft mir nicht weiter. Es ist als lebte ich in dem morphogenetischen Feld meiner Ahnen wie in einem Spinnennetz gefangen. Auch die tätigen Psychotherapeuten und Psychiater kennen sich damit noch nicht wirklich gut aus. Wie lange ich noch durchhalte weiss ich nicht. Aber ich bin dankbar für dieses Forum. Es zeigt dass ich nicht verrückt bin. Ich kenne es nicht, sich geliebt zu fühlen. Oder liebevolle körperliche Zuwendung. Da ist nur Schmerz und eine tiefe Leere. Gleichzeitig empfinde ich tiefes Mitgefühl für alle in diesem Forum. Wenn ich die Kraft hätte, würde ich als Betroffene und Ärztin gerne zur Hilfe beitragen.

Nachträglich möchte ich noch sagen, dass es trotz des Schmerzes wichtig ist das Vergangene zu vergeben bzw. sich für Vergebung zu öffnen, damit das Täter-Opferprinzip durchbrochen und geheilt werden kann. Ich weiss, es ist nicht leicht. Aber alle Täter waren wiederum Opfer von Tätern. Gleichzeitig ist es wichtig und notwendig, dass das, was geschehen ist, nicht verleugnet wird. Das ist ja letztendlich der Grund, dass es die Nachkommen tragen. Das was ist darf da sein und muss beim Namen genannt werden. Vergebung ist der nächste Schritt.
H., Januar 2017

 

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Wo war die Liebe

Geboren wurde ich 1969 als einziges Kind meiner strengen, bestimmenden Mutter und meines nie erwachsen gewordenen Vaters, der, wenn nicht auf Arbeit, eher ein Befehlsempfänger meiner Mutter war.
Obwohl sie 13 Jahre nicht arbeitete, war sie nie wirklich für mich da. Sie war anwesend, hielt die Wohnung klinisch rein und kritisierte und schimpfte sogar schon wegen eines trotzigen Blickes. Ich war ständig krank, was aber auch nicht zu mehr Aufmerksamkeit führte. Ich hielt das lieblose Zuhause für normal, bis ich eines Tages mit 6 Jahren zum 1. Mal bei einer andren Familie zu Gast war. Das liebevolle Miteinander schockte mich zutiefst. Ich fragte daheim meine Mutter, warum sie mich eigentlich nie in den Arm nehmen würde. (Sie vermied körperliche Nähe seit ich denken kann). Ihre Antwort: „Sei nicht so frech oder ich schmier dir eine!“ Ich fragte nie wieder. Oft stand ich auf unsrem Balkon und überlegte, ob ich wegfliegen könnte, so wie in meinen Träumen.
Ich durfte kaum zu Freundinnen, da meine Mutter keine Gegenbesuche duldete. Ich durfte einen einzigen Geburtstag feiern, dann wars das. Unnötig. Jedes Wochenende ließen sie mich allein und fuhren bis morgens weg. Ich erfuhr erst später, dass sie tanzen waren. Ich fühlte mich einsam und verlassen. War ich unartig, wurde mir mit Heim gedroht. Beim Essen lag ein Stock hinter mir, damit ich nicht mit Lachanfällen das Mahl störte.
Auch meine Jugend war geprägt von Beleidigungen, Kontrolle, Ablehnung und Desinteresse. Im Rückblick fallen mir immer mehr Ungeheuerlichkeiten ein, die mich sehr verletzen und eigentlich ihr und mir zuliebe unausgesprochen bleiben sollten.
Meine Großeltern waren Vertriebene und Mutter und ihr Bruder wurden auf der Flucht geboren. Sie lebten als Knechte an vielen Orten, bis sie einen Ort zum Neuanfang fanden. Ihre Kindheit bestand aus Arbeit, Lieblosigkeit und Prügel vom cholerischen Vater. Wen wunderts, dass sie so geworden ist. Ich hab Verständnis für sie, aber verzeihen kann ich ihr nicht. Ich halte Kontakt, spreche aber Probleme nicht an. Sie regt sich sonst sehr auf, weint, weil ich undankbar sei und wird krank. Früher machte mein Vater mir dann Vorwürfe. Jetzt lebt er nicht mehr, und ich nehm Rücksicht auf ihre Trauer.
Ich geb meinen Kindern all die Liebe und Hilfe, die ich als Kind so sehr gebraucht hätte. Ich stelle mich und meine Bedürfnisse immer zurück, Hauptsache allen andren gehts gut. Das perfekte Opfer, das man ausnutzt und übergeht. Erst seit wenigen Jahren traue ich mich, meine Meinung auch mal zu vertreten und nein zu sagen. Schwerstarbeit. Ich hätt gern ein andres Leben gelebt. Jetzt begreife ich aber wenigstens, warum alles so gekommen ist.
Meine Mutter fragte mich einmal vor Jahren, warum ich mich von Männern immer wie Dreck behandeln ließe. „Was hat dich nur so gemacht??“ Meine mutige Antwort: Du! Du hast mich so gemacht!!
Das erste und einzige Mal, dass ich mich traute aufzubegehren.

Nachtrag

Das Ganze hatte wohl den Ursprung bei meinem Großvater mütterlicherseits, vor dem wir alle Angst bzw. enormen Respekt hatten. Er regierte seine Familie mit harter Hand, war kalt und verletzend, Pünktlichkeit und Sauberkeit waren oberstes Gebot, Widerrede war zwecklos. Selbst Spielen oder Lesen waren verboten. Für ihn reine Zeitverschwendung. Je älter er wurde, umso weniger Freunde und Familie ließen sich blicken. Ich bezweifle, dass er überhaupt jemals Freunde hatte. Seine Frau und Kinder litten unter ihm, unterwarfen sich aber pflichtbewusst. Für ihn waren sie 'Klötze am Bein', die sich als Wiedergutmachung nützlich machen und seine Launen ertragen mussten. Wir Enkel wussten nicht um die Hintergründe, wohl bekamen wir die bedrückende Grundstimmung mit, sowie auch manchmal die gefürchteten Wutanfälle.
Erst als ich schon erwachsen war, erfuhr ich Bruchstücke aus seiner Kindheit, besonders eine Sache, die mich etwas milder auf ihn blicken ließ.
Er selbst erzählte einmal in einem schwachen Moment, dass er als schwächliches Kind in einer sehr kinderreichen, armen Familie geboren worden war, und seine Mutter ihn nicht versorgte, da er eh nicht überleben würde. Erst als er nach Tagen immer noch schrie, überredeten sie die Geschwister, ihn doch in die Familie aufzunehmen. Eine entsetzliche Vorstellung, als Kind mit diesem Wissen aufzuwachsen. Zumal er zeitlebens an den gesundheitlichen Folgen dieser Tat bzw. Unterlassung litt. Die ganzen schlimmen Details wage ich gar nicht zu schreiben, aber ich wundere mich nicht, warum meine Mutter so ist wie sie ist, und warum ich mit diesen Schwierigkeiten kämpfe.
Das Schlimme ist das schweigende Erdulden, das die nachfolgenden Generationen vergiftet. Mir geht es besser, seit ich die Zusammenhänge sehen kann. Ich weiß, ich bin nicht schuld und ich hab mein Bestes gegeben. Ich bin es meiner Mutter nicht schuldig, mich ununterbrochen um sie zu sorgen. Und ich habe für meine Kinder den Teufelskreis durchbrochen. Sie dürfen sich wertvoll, geschätzt und geliebt fühlen.
Jetzt arbeite ich daran, auch mir zu erlauben, dass es mir gut geht. Dass ich auch für mich leben darf, nicht nur für andere. Ein langer Weg.
Sanne, Februar 2016

 

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Eulenruf

In Gedenken an Iwan Szal (1911 - 1994) und Franz Gröschel (1905 - 1971)

Auf der Zugfahrt von Shitomir nach Rowno, am 6. Oktober 1943, war es, dass sich die Landschaft um Franz herum zu leeren begann.

Nach und nach verblassten die menschlichen Schemen, die sich einzeln oder in getriebenen Kolonnen entlang der Eisenbahnstrecke schleppten. Schloss Franz die Augen, durchstreiften höchstens noch der ein oder andere Bär oder ein Rudel Wölfe die weite ukrainische Ebene, glitt nur mehr vereinzelt der grauschwarze Schatten eines aufgestörten Nachtvogels über sie hinweg.

In seinen wenigen wortkargen Schilderungen, ausgelöst durch seltene Momente, in denen die Neugierde einer Schwiegertochter oder eines Enkelkindes den üblichen Mantel des Schweigens abschüttelte, sich in einem unbefangenen Moment Bahn brechend, umriss er die Ukraine später genau so: Weite, Wölfe, Bären, Eulen. Mehr war da nicht.

Etwa ein Jahr nach Kriegsende geschah es nur noch ein einziges und letztes Mal, dass Franz, der Maler, die Menschenleere seiner Bilder durchbrach - und dies nur, als wollte er die Abwesenheit von Menschen nachträglich erklären, den Hergang dazu erzählen: „Der Tod“, so nannten wir das düstere Gemälde, auf dem eine groteske Gestalt den gesichtslosen Zug der Menschheit und Menschlichkeit vor sich her trieb, einem weiß ummauerten Friedhof entgegen.

Kaum merklich schloss sich Franz seit jener Zeit auch körperlich dem entschwindenden Menschenstrom an, ergänzte die Verlassenheit seiner Bilder zunehmend durch die Leere vor der Staffelei, brachte sein Stillleben zur Vollendung.

Doch nun also: Stammlager Rowno.
Die wiederholten Fälle von Kannibalismus unter den etwa 100.000 in den Jahren 1941 bis 1943 dort zusammengepferchten sowjetischen Kriegsgefangenen wurden von der deutschen Lageraufsicht des Stalag 360 streng geahndet. Vielleicht sah man darin eine Unterwanderung des vom Reichsministerium für Ernährung und Landwirtschaft 1941 erlassenen „Hungerplanes“ zur angestrebten Dezimierung der sowjetischen Bevölkerung um etwa 30 Millionen Menschen.
Von den über 5 Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen kamen über 3,3 Millionen durch Mord, Hunger, Erschöpfung und Krankheiten zu Tode.

Zuvor hatte Franz, der kunstfertige Zeichner, im Rückraum der voran feuernden Ostfront Landkarten und Geländeskizzen gefertigt. Von Landstrichen, deren Kartierung nur vollzogen wurde, um sie systematischer in Massengräber und verbrannte Erde verwandeln zu können.
So auch in Shitomir: Am 9. Juli 1941 durch die Wehrmacht erobert, zog Franz als Angehöriger des Landes-Schützen-Bataillons 351 direkt im Anschluss in die Stadt ein und blieb dort über zwei Jahre, bis zu eben jenem 6.Oktober, stationiert.
Seine und seiner Kameraden Aufgabe lag in der „Sicherung“ des eroberten Gebietes vor Partisanenanschlägen sowie der Bewachung von Kriegsgefangenen und Transportwegen.
Bereits am 18. und 19. Juli 1941 ermordete das SS-Sonderkommando 4a sämtliche männlichen jüdischen Einwohner, in einer zweiten „Welle“ im September und Oktober folgten Frauen und Kinder.
Diese insgesamt etwa 5000 Morde an Juden wurden teils als öffentliche Aufführung auf dem Marktplatz der Stadt inszeniert (Tod durch den Strang vor den Augen von Zivilisten und Wehrmachtssoldaten), größtenteils als Massenexekutionen in den umliegenden Wäldern.

Doch bald flutete die Front nicht mehr voraus, sondern zog sich wie die Brandung bei Ebbe immer weiter über verödeten Grund zurück. Karten des verlorenen Landes wurden nicht mehr benötigt - und Franz stattdessen dem Kommandeur der Kriegsgefangenen beim Wehrmachtsbefehlshaber Ukraine unterstellt.

Es muss spätestens hier gewesen sein, wo - inmitten von Sadismus, Kannibalismus, Verzweiflung, Hungertod - Franz die Bedeutung von Kriegsgefangenschaft bewusst geworden war.
Eine Erfahrung, die dem wenig heldenhaften, melancholischen Glasmaler aus Nordböhmen die Kraft verliehen hat, wenige Jahre später aus dem bereits durch Österreich in Richtung Sibirien rollenden Gefangenentransport zu springen, von der ausbleibenden Kugel in den Rücken angespornt die nächtlichen Fußmärsche gen Westen zu überstehen, im Schutz der Dunkelheit den eisigen Inn zu durchschwimmen und die in den amerikanischen Sektor vertriebene Familie wieder aufzuspüren.

Bei Franz‘ Ankunft am Bahnhof Rowno herrschte gespenstische Stille.

Um der Massen an Häftlingen besser Herr zu werden, war das Lager soeben auf eine neue Brachfläche im Vorort Zytyn umgesiedelt worden. Die noch arbeitsfähigeren Insassen wurden nun - auch in Anbetracht der näher rückenden Roten Armee - verstärkt zur Zwangsarbeit in die deutschen Reichsgebiete deportiert.
Es war Herbst geworden, seit Wochen herrschte eine nasskalte Großwetterlage vor, deren westliche Winde starke Regenfälle mit sich brachten. Wege und Böden waren verschlammt und aufgeweicht.

Herbstlicher Nebel verwischte alle Konturen und kroch klamm selbst durch die schmalsten Ritzen unter Franz‘ Ärmeln und Mantelkragen.
Während die 4. Kompanie den Truppentransportzug verließ, defilierten in umgekehrter Richtung die Verschleppten und Kriegsgefangenen den Bahnsteig entlang, um in eben jenem Zug in Richtung Deutsches Reich verfrachtet zu werden. Im dämmerigen Dunst schienen sowohl die schlurfenden Schritte als auch die stummen Seufzer der ausgemergelten Männer verschluckt zu werden, die in erbärmliche Lumpen gehüllt dicht an Franz vorbeigedrängt wurden. Der bestialische Gestank aller nur denkbaren menschlichen Ausscheidungen raubte ihm den Atem.

Aus einer windgepeitschten Birke jenseits der Gleise drang jäh das stockende Rufen einer Eule.
In dem Moment blickte Franz auf und starrte unvermittelt in ein zahnloses, gefrorenes Grinsen.
Blicke trafen sich - und es sollte für lange Zeit das letzte Mal gewesen sein, dass Franz sich unverwandt von einem menschlichen Blick in Bann ziehen ließ.
Der Warnschuss eines Gefangenenwärters ließ Franz zusammenfahren, nicht aber den Gefangenen. Durch ihn schien der Knall widerstandslos hindurch zu peitschen, ohne auch nur ein Lid zum Zucken zu bringen. Erst ein Kolbenstoß in den gedrungenen Rücken brachte ihn dazu, aus Franz‘ Blick und Leben heraus zu stolpern.

Verwirrt suchte Franz wieder den Anschluss an die Kameraden. Es war offensichtlich gewesen: der Gefangene war taub, kein Schuss, kein Gebrüll schien ihn erreicht zu haben. Und doch war der Ruf der Eule zu ihm durchgedrungen, Franz hatte es gesehen, er irrte sich nicht: sie waren sich in den dumpfen Heultönen begegnet, nur sie beide, wie in einer Blase aus Klang.

Ungezählte menschenleere Bilder später, die meisten davon Stillleben oder ukrainische Landschaften festhaltend, die sich in den diversen Kellern unserer Familie in Schweigen hüllten, nahm Franz mich, den jüngsten Enkel, ein letztes Mal an der Hand und spazierte mit mir über die winterkahlen Felder jenseits unseres Dorfes. Bis zum fernen Waldessaum hin keine Menschenseele zu sehen, nur eine einsame Gestalt im graublauen Arbeitskittel, die geflickte Hose aus den verschmierten Schäften der Gummistiefel herausgerutscht:
Iwan, verrosteten Stacheldraht an frisch erneuerten Holzpfählen festnagelnd.

Ich mochte Iwan, den taubstummen Knecht des benachbarten Bauernhofes, wie Strandgut zurückgeblieben nach den Wirren des Krieges, die harte Fronarbeit der verbrannten Heimaterde vorziehend.
Nachnamenlos aufgenommen in die Gruppenfotos der schwäbischen Weltkriegsveteranen und Sportschützen, auf denen seine hell strahlenden Augen und markanten Wangenknochen aus den runden, freundlichen Zügen unter schütteren Locken hervorstechen.
Im fadenscheinigen Feiertagsanzug im „Adler“ das Sonntagsbier durch die Kehle rinnen lassend, den Staub von Stroh und den Geruch von Kuhmist hinunterspülend. Uns Kindern stets ein zahnloses Lächeln schenkend und uns gerne kleine Kunststücke beibringend:

Wie man einen Zaunpfahl auf dem ausgestreckten Zeigefinger balanciert.

Wie man eine Weidenpfeife zurechtschnitzt, auf Grashalmen bläst.

Und wie man durch die hohl zusammengelegten Hände den Ruf einer Eule hervorbringt.

Nun hallten seine Hammerschläge weit über die verwaisten Viehweiden, wurden vom dichten Fichtenwald vielfältig zurückgeworfen und verwirbelten mit den erneuten Schlägen zu einem auf- und abschwellenden Rhythmus.
Iwan jedoch hörte weder die Schläge noch unsere sich nähernden Schritte.
Erst als ich dicht hinter ihm vergeblich versuchte, meinen Händen mehr als ein zischendes Pfeifen zu entlocken, bemerkte er uns, wand sich uns zu, legte seine wuchtigen Pranken zusammen und führte mir erneut den vollkommenen Klang seiner Handflöte vor. Wie erspürte er es nur, den Ton so sicher zu treffen?

Als ich aufsah, bemerkte ich, wie die beiden Männer sich erstarrt gegenüber standen. Langsam ließ Iwan seine Hände sinken.
War es der bissige Ostwind, der Tränen an die Winkel ihrer beider Augen trieb, der Iwans Lippen in stumme Zuckungen versetzte, der Franz‘ Arm in einen Tremor verfallen ließ?

Mir wird kalt, Opa, stammelte ich, und zog ihn am Ärmel mit mir fort.
Auf dem Heimweg fiel kein weiteres Wort mehr, und so vertiefte ich mich darein, Iwans Eulenruf nachzuahmen.
Mein Großvater schwieg.
Es war das Letzte, was ich von ihm hörte.

Besucher der Nervenheilanstalt, in der Franz seine letzten Monate verbringen und sein Leben beschließen sollte, berichteten später, aus seinem, des „Uhus“, wie sie ihn dort schmunzelnd nannten, Zimmer drangen bis zuletzt diese merkwürdigen, eulenartigen Ruffolgen, ehe sie sich in den linoleumverkleideten Anstaltskorridoren verloren.

Die Kurzgeschichte ist eine literarische Bearbeitung meiner Erinnerungen sowohl an den Großvater, als auch an einen ehemaligen ukrainischen Zwangsarbeiter aus unserem Dorf.
Ein Versuch über das Stumme und Taube in der Bewältigung unserer Geschichte.
Die Fakten im Text sind so gut wie möglich recherchiert - nur das Zusammentreffen der beiden realen Personen ist fingiert, hätte jedoch (fast) so oder ähnlich geschehen sein können.

Constantin, Februar 2016

 

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Befreit?

Seit meinem Eintrag „Befreiung“ vom Juli 2013 ist nun schon einige Zeit vergangen, doch das Vergangene lässt einfach nicht los. Zwischenzeitlich ist meine Mutter 90 Jahre alt geworden und hat meine Grußkarte und das Büchlein „Wir vom Jahrgang 1925“ mit dem Vermerk „Annahme verweigert“ zurückgeschickt. So gerne hätte ich eine Brücke der Begegnung gebaut, so sehnlich eine „positive Rückmeldung“ erwartet. Doch leider nur schweigen.

Meine Mutter, geboren in Mühlhausen in Thüringen, ist 1938 nach Neuruppin in Brandenburg gezogen. Ihr Vater, mein Großvater, hatte dort als NSDAP-Mitglied ein Kaufhaus „arisiert“, das im Zuge des „totalen“ Krieges 1943 geschlossen wurde, worauf mein Großvater sich im Neuruppiner See das Leben nahm. Da war meine Mutter 17 Jahre alt. Nach der Wiedervereinigung wollte meine Mutter das „Erbe“ ihres Vaters antreten. Doch da waren das Vermögensgesetz und der Rückübertragungsanspruch der Nachfahren der jüdischen Vorbesitzer des Kaufhauses „dagegen“. Insoweit ist die Sache nicht in ihrem Interesse ausgegangen. Darüber habe ich mich mit meiner Mutter auseinandergelebt. So konnte ich auch nicht mehr mit ihr über Vergangenes sprechen, das mir immer und immer wieder in den Sinn kam, obwohl ich zu der Zeit noch gar nicht geboren war.

Irgendwann habe ich dann angefangen, das aufzuschreiben, was mir über die vergangene Zeit und deren heutige Aufarbeitung wichtig war. Dabei bin ich auch auf das Forum Jugend in Deutschland 1918 bis 1945 gestoßen und habe viele Informationen bekommen, die zu immer neuen Fragen führten. Vor einem Jahr habe ich dann in der Garage meiner Eltern einen Pappkarton gefunden, in dem meine Mutter Briefe aus den Jahren 1942 bis 1960 aufbewahrt hatte. Das war eine wahre Fundgrube. Nachdem ich mich in die Sütterlinschrift eingelesen hatte, fügte ich das Gefundene in meine Aufzeichnungen ein und wurde immer neugieriger. Beim Bundearchiv erbat ich Auskunft über die NS-Vergangenheit meines Großvaters und bekam die Kopie der NSDAP-Mitgliederkarteikarte zugesandt. Auf dem Foto war mein Großvater in SA-Uniform abgebildet. Von dieser Zugehörigkeit hatte ich noch nichts gehört. Meine Mutter hatte mir davon auch nie etwas erzählt. In anderen Archiven fand ich Geschäftsunterlagen meines Großvaters, Hinweise auf das Schicksal der jüdischen Vorbesitzer des Kaufhauses in Neuruppin usw.

Schließlich hatten meine Aufzeichnungen einen Umfang von fast 200 Seiten erlangt und ich überschrieb sie mit „Hundert Fragen an meine Mutter“. In schön gebundener Form liegen sie nun vor und könnten gelesen und mit mir besprochen werden. Doch leider ist niemand da, der mit mir mein Geschriebenes teilen oder mir eine Rückmeldung dazu geben möchte. Von meiner Mutter erwarte ich es nicht, obwohl das „unsere“ Geschichte ist. Meine Patentante, die Schulfreundin meiner Mutter, hat nach dem Erhalt des Buches das vereinbarte Treffen mit mir abgesagt. Meine Frau will oder kann nicht, meine Kinder sind wohl noch zu jung (18 und 17) oder schon zu weit weg und Freunden möchte ich mit dieser Geschichte nicht zu nahe treten. So bleibt bei mir ein Loch.

Die Psychologin, die mich seit Jahren sporadisch auf meinem Weg begleitet, und der ich mein Anliegen vorgetragen und mein Buch vorgelegt hatte, äußerte zu meiner großen Überraschung, dass sie der Inhalt des Buches gar nichts angehe. Das sei die Geschichte meiner Mutter und die werde sie nicht mit mir besprechen. Außerdem empfinde sie das, was ich da getan habe, meiner Mutter gegenüber „übergriffig“. Gerne sei sie bereit, mit mir darüber zu sprechen, warum niemand mit mir mein Buch lesen möchte. Das war für mich harte Kost!

Glücklicher Weise hatte ich kurz danach einen Termin bei einem Lehrpsychologen und Supervisor. Der hat sehr viel einfühlsamer reagiert, mein Buch sogar angeschaut und mir folgendes Bild mit auf den Weg gegeben:

Das Schweigen der Generation der „Alten“ ist wie eine hohe Mauer. Da möchte niemand drüber schauen. Wenn doch geschaut werden müsse, dann so nach dem Motto: „Schau Du doch mal und wir gucken Dir dabei zu.“

Ich sei nun nicht nur auf die Leiter gestiegen und habe über die Mauer geschaut, sondern sei sogar über die Mauer geklettert und habe mir dort drüben alles angesehen. Das mache den Menschen Angst.

Mit dem Psychologen habe ich dann in weiteren Sitzungen die wichtigsten Passagen meines Buches besprochen und somit zumindest eine professionelle Resonanz erfahren.

Insoweit ist für uns Kriegsenkel das „Wegräumen der seelischen Trümmer“, die uns die „Alten“ hinterlassen haben, auch in der heutigen, aufgeklärten Zeit kein ganz einfaches Unterfangen.
S.G., November 2015

 

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Meine Geschichte

Meine Eltern waren beide Jahrgang 39, jung geheiratet um von zuhause weg zu kommen und jung zwei Kinder bekommen. Meine Mutter war Pflegekind bei ihrer Tante, da die eigene Mutter früh verstarb, den Vater hat sie nie kennengelernt. Vom Krieg hat sie wenig bis nichts mitbekommen.
Mein Vater war - wie er immer betonte - „4. Kind von 7“ oder musste sich „Mutterliebe durch 7 teilen“. Seine Mutter, meine Oma, eine starke Frau, musste im Krieg und in der Nachkriegszeit ihre 7 Kinder alleine durchbringen. Ich bin aufgewachsen mit Geschichten von Flucht und „wie die Mutter ihre Kinder mit Kordeln am Handgelenk an die Unstrut gebracht hat“, von Rückkehr, von Hunger Angst Kälte Gewalt in der Familie Leben im Wald von Armut Schlägen usw.
Die meisten Menschen die derartiges erlebt haben, wünschen sich als Eltern an ihren Kindern „alles wieder gut zu machen“ und gleichen dadurch ihre Defizite aus. Es findet dadurch auch eine Art Heilung statt.
Bei meinem Vater war das komplett anders. Ich bin aufgewachsen in einer Atmosphäre aus Angst und Bedrohung. Früheste Kindheitserlebnisse sind die, dass mein Vater meine Mutter blau würgte, dass sie Nachts sich prügelnd in unser Kinderzimmer stürmten, dass ich von Hilferufen meiner Mutter wach wurde, da war ich noch sehr, sehr klein.
Mein Vater war ein cholerischer, aggressiver, zu anderen Menschen aber oft ausnehmend freundlicher, lauter, rechthaberischer Mensch. Wenn ihm etwas nicht passte, schmiss er mit Sachen um sich. Meine Mutter bekam einmal Linsensuppe über den Kopf geschüttet, als ihm diese zu heiß war. In jeder Wohnung hatten wir Kaffeeflecken an der Tapete, weil er die Kaffeekanne an die Wand geschmissen hatte.
Das Schlimmste waren seine Launen. Schlief man Sonntags mal was länger, bekam man Schimpfe, man sollte doch nicht so faul sein. Stand man am nächsten Sonntag ihm zuliebe dann früher auf hieß es, man solle ihm doch nicht so früh auf die Nerven fallen.
Dadurch habe ich Zeit meines Lebens Probleme mit der eigenen Wahrnehmung. Was bin ich? Wer bin ich? Was will ich?
Fehlentscheidungen, falsche Partner, mangelnder beruflicher Ehrgeiz, häufige Umzüge, Wankelmütigkeit bestimmten mein Leben. Hinzu kamen relativ früh ab ca. 16 Jahre Probleme mit Panik, Agoraphobie und ab 18 kamen noch regelmäßige Migräneanfälle mit Aura hinzu.
Mein Vater gönnte uns Kindern nichts. Bekamen wir zum Beispiel mal ein halbes Hähnchen, schimpfte er mit uns wenn wir uns nur das „weiße Fleisch“ nahmen. Durften sich andere Kinder am Wagen mal ein Eis oder Fritten holen, schauten wir in die Röhre. Es gab nie Süßigkeiten zuhause, es sei denn zu Weihnachten oder Ostern. Dann stürzten wir uns aber darauf und aßen - zumindestens ich - alles schnell leer.
Neue Bekleidung musste meine Mutter heimlich kaufen und in unsere Schränke legen. Er selber leistete sich teure Kameras und uns gönnte er noch nicht einmal einen neuen Mantel. Ich fühlte mich als Kind immer schäbig gekleidet und war neidisch auf Freundinnen, wenn diese etwas Neues bekamen. Heute liebe ich Mode und freue mich wenn ich mir etwas Neues kaufen kann.
Mit 7 Jahren wurde ich von meinem Vater alleine im Wald stehen gelassen. Er musste nur schnell zum Auto zurück und was holen. Ich sollte mich nicht vom Fleck rühren. Ich weiß noch, wie ich mir vor Angst fast in die Hose gemacht habe und stocksteif dort stand mitten im dichten Wald.
Das in einer kindlichen Phase, die sowieso geprägt war von Erzählungen und Märchen vom bösen Wolf und allerlei Schreckensgestalten und voller Phantasie. Ich habe auch viele Jahre vom Wolf als Untier geträumt. Heute weiß ich, dass ich damit von meinem Vater geträumt habe.
Drohung, Angst, Demütigungen waren unsere ständigen Begleiter. Wenn ich heute Kinderfotos anschaue von mir sehe ich die Angst und Schüchternheit förmlich in meinen Augen.
Meine Eltern trennten sich als ich 12 Jahre alt war und der Kontakt zu meinem Vater war bis zu seinem Tod immer nur phasenweise vorhanden. Man konnte gut mit ihm auskommen, wenn man ihm nach dem Mund redete, zu allem Ja und Amen sagte und seinen endlosen Tiraden zuhörte. Streit mit ihm zu bekommen war sehr leicht und deshalb hatte ich ständig Streit mit ihm, über viele Jahre auch gar keinen Kontakt.
Trotzdem habe ich meinen Vater geliebt und es gab auch schöne Sachen. Erinnerungen an Drachenbasteln und Steigenlassen, Fahrradtouren, Urlaube etc sind unauslöschlich in meiner Erinnerung.
Er bastelte für uns Puppenhäuser und fing Feuersalamander, für die er ein Terrarium baute. Wir durften immer Tiere haben und mein Vater ging nicht wie andere in seiner Freizeit in die Kneipe, sondern beschäftigte sich mit seinen Kindern.
Trotz alledem habe ich als Kind sehr gelitten und die Folgen durchziehen mein Leben. Eine generalisierte Angststörung ist mein ständiger Begleiter.
Ich beschäftige mich erst seit kurzem mit dem Thema „Kriegsenkel“ und bin erschüttert wie sehr doch die Beschreibungen der Väter denen meines Vaters gleichen. Der Krieg hat Seelen zerstört.
Leider hat mein Sohn vor ca zwei Jahren auch eine Angsterkrankung entwickelt mit sozialer Phobie und Schulabsentismus. Es geht ihm aber jetzt sehr viel besser.
Ulrike, Oktober 2015

 

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Erziehung zum Neutrum

Ich bin 1960 geboren und nach der Definition von Sabine Bode sowohl ein Nachkriegskind (mein Vater war mit 17 Jahren im Krieg als Soldat), als auch ein Kriegsenkel (meine Mutter war bei Kriegsende 12 Jahre alt). Vieles, das Sie schreiben kann ich bestätigen. Zu diesem Abschnitt möchte ich noch eine Anmerkung machen:

Erfahrung, dass man als Kind und Heranwachsende/r nicht in die Weiblichkeit oder Männlichkeit eingeführt wurde; Mädchen, die als Neutrum erzogen wurden. Dazu unser Erklärungsversuch: Es könnte sein, dass die Kriegserlebnisse die Eltern dahingehend geprägt haben, dass Männlichkeit und Weiblichkeit Gefahr bedeuten. Das „Erziehen“ als „Neutrum“ diente sozusagen unbewusst als Schutz für uns. (aus der Merkmalliste unserer Studie. Anm. ForumKriegsenkel)

Das Gefühl als Neutrum erzogen worden zu sein hat mich lange begleitet. Eine Therapie (wg Raumangst) half mir ein positives Verhältnis zu meinem weiblichen Körper zu bekommen; in den Gesprächen spielte die Erziehung zum Neutrum allerdings keine Rolle. Ich hatte das „Neutrum“- Gefühl sogar vergessen, bis ich den oben stehenden Text gelesen habe. Ich hatte in der Vergangenheit nie den Eindruck, dass es dabei um meinen Schutz ging. Vielmehr um den meiner Eltern. Wenn ich keine Frau bin, dann werde ich nicht heiraten, keine Kinder haben etc., sprich als Gefährte (ähnlich der früheren Haustochter) meiner Eltern ewig da sein und für Schutz sorgen. Insofern stellen „Männlichkeit und Weiblichkeit“ (der Kinder) eine Gefahr für die Eltern dar. Zumindest sehe ich das so.
Monika, Oktober 2015

 

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Jahrgang 1964 – der 80. Geburtstag meines Vaters

Mein Vater, Jahrgang 1935 feiert seinen 80. Geburtstag. Nur mit Mühen kann ich daran teilnehmen. Die grauen Schleier, die tiefe Bedrückung und Lähmung, die mich mein Leben lang überschatten, werden wieder mächtig. Mein Freund begleitet mich – alleine setze ich mich diesen Familientreffen nicht mehr aus.
Durch Zufall oder Fügung bin ich auf ein Buch mit dem Thema „Kriegsenkel“ gestoßen – wenige Tage vor der Feier. Obwohl ich seit meinem 26. Lebensjahr mehr oder weniger in Therapie bin (wegen Angstzuständen, Depressionen, Alkohol- und Drogenmissbrauch, Wochenbettdepressionen Burnout, extrem belastenden Beziehungen, Bindungsunfähigkeit etc. etc.) und inzwischen ein ausgeglichenes Leben führen kann, werde ich von unkontrollierbaren Weinkrämpfen geschüttelt – ich bin direkt und im Innersten betroffen und erleichtert! Ja, ich bin ein Kriegsenkel!
Meine Mutter (Jahrgang 1938) ist bereits vor 9 Jahren mit 68 Jahren verstorben – flüchtlings- und kriegstraumatisiert, depressiv oder hyperaktiv, tablettensüchtig und angstgestört hat sie es erst kurz vor ihrem Tod geschafft, über ihre Erlebnisse zu berichten und begriffen, dass sie ihre Vergangenheit nie hat verarbeiten können. Ich bin froh darüber, dass sie sich vor ihrem Ende noch einmal gezeigt hat: Vieles habe ich verstehen und ihr „vergeben“ können.
Mein Vater wurde in einem Nazihaushalt erzogen und sozialisiert. Nach dem Krieg folgten Hungerjahre und extrem beengte Wohnverhältnisse wegen der Aufnahme von Flüchtlingsfamilien. Mein Urgroßvater hat sich nach Kriegsende das Leben genommen; das Scheitern des Krieges konnte er scheinbar nicht überwinden – vielleicht war er auch als „Täter“ verstrickt. Darüber wurde nie gesprochen. Alles Wissen darüber habe ich in Nebensätzen aufgeschnappt. Erst nach dem Tod meines Großvaters haben wir einschlägige, bildgewaltige Literatur auf dem Dachboden gefunden mit so schönen Titeln wie „Der Führer und die Kinder“ oder „Der Führer und die Olympischen Spiele 1936“ uvm.
Bedeutend für meine Lebensgeschichte ist, dass ich nie wirklich mit mir zufrieden sein kann. Immer fehlt etwas, nie bin ich genug, meine Leistung ist einfach nicht ausreichend. Ich bin eine Getriebene, mir fehlen die Wurzeln, ich bin innerlich nicht zu Hause. Obwohl ich beruflich sogar einigen Erfolg habe (aber immer schön unter meinen eigentlichen Möglichkeiten), kann ich mich und meine Erfolge nicht wertschätzen bzw. boykottiere mich selbst und verhindere ein „Weiterkommen“. Wertschätzung gab es auch zu Hause nicht. Ich war nicht vorhanden, wurde übergangen, habe mich besser „klein“ verhalten – das schien ungefährlich (diese Konditionierung konnte ich bis heute nicht abstreifen). Meine Diplomarbeit z.B. war sehr gut und wurde veröffentlicht: meine Eltern haben die Veröffentlichung einfach ohne Kommentar zur Seite gelegt. Besser, ich hätte einen Arzt oder Anwalt geheiratet. Ich verweigere bis heute die Ehe und habe erst mit 42 Jahren zu einer respekt- und liebevollen Beziehung gefunden.
Mein Bruder (Jahrgang 62) wurde immerhin für seine beruflichen Erfolge wahrgenommen. Von Söhnen wurde dies eher erwartet. Ansonsten war er derjenige, der als Kind unter den unkontrollierten Gewaltausbrüchen meines Vaters zu leiden hatte. Mein Vater war unterschwellig hochaggressiv, nach Außen hin aber immer höflich und hilfsbereit.
Meine Eltern stritten unablässig und es wurde bisweilen auch handgreiflich, es flogen Gegenstände. Mein Bruder und ich lebten in großer Angst.
Für meine Eltern war ich das Problemkind mit den vielen „Störungen“. Als kleines Kind still und in mich gekehrt habe ich jedoch seit meiner Pubertät die Leistung verweigert, wurde ständig krank, habe nicht funktioniert. Mit allen Tricks habe ich versucht, gesehen zu werden. Meiner Mutter war das so anstrengend, dass sie sich buchstäblich im Alkohol ertränkte. Sie hat sich auf ihre Art bemüht, konnte mich aber nicht wirklich emotional wahrnehmen. Dafür hat sich mich bisweilen gehasst und zutiefst abgelehnt. Zu belastend: sie war einfach mit sich selbst beschäftigt. Und gleichzeitig litt sie unter starken Schuldgefühlen, ihren Kindern nicht „gerecht“ werden zu können. Sie hat ihre emotionale Bindungsunfähigkeit spüren können, wusste sich jedoch nicht zu helfen.
Mein Vater hat mich vor einiger Zeit gefragt, ob ich ihn pflegen möchte, wenn er alleine nicht mehr kann. Ich war entsetzt! Wie soll ich diesen Mann pflegen, der eine solche „Schwere“ mit sich trägt bzw. in mir auslöst? Meine Ablehnung hat ihn sehr verwundert: Sind denn Töchter nicht dazu da? Mit schweren Vorwürfen bzgl. meiner Undankbarkeit hat er reagiert. Das macht mich so wütend und gleichzeitig ohnmächtig: Wie kann er dies von mir erwarten? Er, der nie in seinem Leben bereit war, einmal hinter die Kulissen zu schauen. Der seine aggressiven Kräfte ungebremst auf uns Kinder hat prasseln lassen bzw. auf uns projiziert hat. Ich sehe ihn als Kind im Nazideutschland und kann etwas weicher werden. Ich sehe ihn als alten Mann mit all den Verbitterungen, die er an uns Kinder weiter geben will und kann dies nur durchweg ablehnen – auch muss ich mich selber schützen! Es bleibt ambivalent, ich unterdrücke meine Wut auch heute noch, da ich ihn nicht verraten will.
Abschließend: es wird auch „Kriegsurenkelkinder“ geben. Meine Tochter wurde in meine nicht aufgelösten Traumata geboren. Ich war ebenfalls nicht in der Lage, mein Kind ausreichend wahrzunehmen oder zu erspüren was sie brauchte. Auch hatte ich bisweilen Angst, sie zu berühren in dem Glauben, ihr das ganze Unglück, das bis dahin noch keinen Namen hatte, unterschwellig weiter zu reichen. So wurde ich vom „Opfer“ zum „Täter“.
Ein wenig mehr Bewusstheit und Leichtigkeit habe ich inzwischen gefunden – ich hoffe, ich konnte den Knoten ein wenig lockern – auch und insbesondere für meine Tochter!
Sabine, September 2015

 

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Ich war 24

Ich bin Jahrgang 1971, Kriegsenkel, größtenteils aufgewachsen im großelterlichen Eigenheim im Mansfelder Land. Das Thema zweiter Weltkrieg wurde von meinen Eltern (Jahrgang 1934) geschildert als ein Abenteuer, das es zu bestehen galt. Diese Erzählungen prägten mich so sehr, dass ich versuchte, als Zeitsoldat der Bundeswehr auch in den Krieg zu ziehen. Hier sind meine Gedanken zu diesem Thema.
Ideale sind friedlich, Geschichte ist immer gewalttätig. So heißt es in dem Kriegsfilm „Herz aus Stahl“ (Originaltitel „Fury“).
Ich war 24, als der Balkan zum „Schlachthaus Europas“ wurde, so nannte der Nachrichtsender BBC die vom Bürgerkrieg zerrissene multiethnische jugoslawische Region. Wir gaben alles, um diesen Wahnsinn zu stoppen. Aber was bleibt für uns, die wir im Kampfeinsatz waren, nach allem davon übrig außer der zerstörten jugendlichen Unschuld? Für die Toten nur ein schleichendes Vergessen der Taten, die sie machten für höhere Ideale.
Als Teilnehmer am viertägigen Nijmegenmarsch war ich auf einem britischen Soldatenfriedhof in Arnheim. Auf einem Grabstein las ich: „Wir gaben unser Heute – damit ihr euer Morgen habt.“
Maik Kattner, Leserbrief in der Zeitung: „Glaube und Heimat“ Nr. 20 vom 17.05.15 zum Thema: „Reaktionen anlässlich des Kriegsendes vor 70 Jahren“ – Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Autors.

 

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Bei uns war Krieg, zu Hause

Bei uns war Krieg, zu Hause. Ich bin im Krieg aufgewachsen. Der Krieg war beständig präsent in meinem Leben, weil er in meinen Eltern präsent war. Dabei habe ich selber nie einen Krieg erlebt und trotzdem war ich im Krieg zu Hause. Das habe ich mein Leben lang eigentlich nicht verstanden. Wie kann mir etwas so gegenwärtig sein, dass ich doch eigentlich gar nicht kenne? Es war mir auch gar nicht bewusst, für mich war es mein Leben, ich kannte es nicht anders. Erst die letzten drei Jahre ist es mir bewusst geworden und dadurch konnte ich vieles besser verstehen.
Ich wurde 1962 geboren. Meine Mutter 1924, mein Vater 1919. Er hat den ganzen Krieg erlebt, sogar überlebt. Er wurde noch vor Kriegsbeginn als Wehrpflichtiger einberufen. Ich weiß, dass er während der Ausbildung den Flur mit der Zahnbürste putzen musste.
Ich finde es heute schwierig, mir zu erklären, warum er von manchen Erlebnissen viel, immer wieder sogar, geredet hat. Alles andere hat er nicht erwähnt. Ich habe immer wieder dieselben „Geschichten“ gehört. Dazu gehörte, dass er die Gefangenschaft in Frankreich nur überleben konnte, weil er mit den Schweinen zusammen gegessen hat. Also - er hat von dem, was für die Schweine bestimmt war, mitgegessen. Das, was die Schweine bekamen, das war mehr und das war besser als das, was die Gefangenen bekamen. Das hat er öfter erzählt, das gehörte zum „Repertoire“. Auch das Bäume fällen mit dem Maschinengewehr. Das war in Russland am Ladogasee. Um freies Schussfeld zu bekommen, mussten die Bäume weg. Dann kamen die Russen in immer neuen Angriffswellen. Die späten Angreifer konnten Deckung finden hinter ihren toten Kameraden. Es hatte sich ein Wall aus Menschenleibern gebildet, der den Angreifenden Deckung bot.
Als es mir einmal schlecht ging, als Kind oder Jugendlicher, vielleicht war ich 14 oder 13, da hat mir mein Vater erzählt, wie er als junger Mann seinen ersten Schwerverwundeten gesehen hat. Dem hingen die Gedärme aus dem Bauch, er versuchte sie wieder hineinzustopfen, sie in sich zu behalten, aber das ging nicht und furchtbar geschrien hätte er dabei. Damit verglichen würde es mir doch gut gehen. Was auch immer mich belastet - er wollte gar nicht wissen, was es war - das könnte doch nicht so schlimm sein. Dagegen konnte ich damals nichts einwenden. Ich empfand es als normal, dass mir solch eine Geschichte erzählt wurde als eine Art Lebenshilfe. Vielleicht kommt auch daher meine spätere Liebe für Kriegsfilme. Trotzdem hatte diese Geschichte mit meinem Problem nicht das Geringste zu tun. Das war doch keine Antwort auf mein Problem. Es lässt sich doch nicht ein empfundenes Leid dadurch aufheben, dass es noch schlimmeres Leid gibt. Vielleicht hat auch diese Geschichte mitbewirkt, dass ich mich selber nicht besonders gut wahrnehmen konnte. Ich bin es nicht wert, genauer betrachtet und gesehen zu werden. Es ist ja nur eine Kleinigkeit, im Vergleich zum Schlimmstmöglichen. Es fiel mir mein Leben lang schwer, mir selber Aufmerksamkeit zu schenken. Stattdessen sah ich mich in irgendeinem Gesamtzusammenhang, der mein eigenes Leid relativierte. Das hat mir dann irgendwie geholfen. Aber es war, als würde es mich selber, mit meinen eigenen Bedürfnissen gar nicht geben. Meine eigenen Bedürfnisse hatten keine Daseinsberechtigung.
Doch es waren nicht nur Geschichten, es war eher eine Grundeinstellung meiner Eltern, die mich tief geprägt hat. Das ist ein Gefühl von immerwährender Bedrohung. Es kann keine Ruhe geben, keinen Frieden, keine Entspannung, keine Sicherheit. Es ist besser jederzeit auf das Schlimmstmögliche gefasst zu sein. „Fliegeralarm - alles in die Betten.“ Das brüllte mein Vater gern und er fand es wirklich lustig. Ich habe mich dabei jedesmal erschrocken. Wer jederzeit mit dem Schlimmsten rechnet, der wird nicht überrascht. Es ist besser, ich nehme jedes mögliche Unheil schon mal in Gedanken vorweg und bereite mich innerlich darauf vor. Vielleicht ist das einer der Gründe, warum ich auf sehr langen Autofahrten lieber keine Pause machte: Das Auto könnte nicht wieder anspringen. Besser ich mache es nicht aus, denn jetzt fährt es noch, das weiß ich.
Ich habe gelernt, zu ÜBER-leben. Vielleicht könnte sogar auch ich einen Krieg überleben, wie meine Eltern es geschafft haben. Aber ich habe nicht gelernt, zu LEBEN. Ich habe nicht gelernt, wie man ein angenehmes Leben führt, wie man sich das Leben schön macht, wie man glücklich werden kann in seinem Leben und mit seinem Leben. Als ich 50 Jahre alt wurde, da bekam ich eine Ahnung davon, wie es sich anfühlen könnte, ein angenehmes Leben zu führen. Mein Vater hat sich übrigens selbst das Leben genommen, in dem Jahr in dem er 60 Jahre alt geworden wäre. Damals war ich 16. Das war für mich mein Leben lang schwer zu verstehen, wie jemand den ganzen Krieg überleben kann und sich noch mit fast 60 Jahren das Leben nimmt.
Inzwischen lebe ich sehr gerne. Und ich kann mich an meinem Leben freuen. Und lang möchte ich noch leben. Das war ein langer Weg über 50 Jahre. Und ich mag auch keine Kriegsfilme mehr und genieße Pausen auf langen Autofahrten.
Achim G., Mai 2015

 

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Ich bin Jahrgang 1970

Ich bin Jahrgang 1970, meine Schwester 1971 und meine Eltern Jahrgang 1950/51. Vor einem Jahr bin ich auf das Thema „Kriegsenkel“ gestoßen und nun fange ich langsam an, zu verstehen.
Meine Kindheit war geprägt von Pflichterfüllung, Funktionieren, nicht Auffallen, keine Bedürfnisse haben und immer Abwertung der eigenen Person durch die Eltern (meine Mutter war Lehrerin und mein Vater Polizist), Schuld haben für was Unausgesprochenes. Meine Schwester und ich haben zum Glück keine Prügel bekommen, aber wir wurden seelisch kaputt gespielt. Wir mussten die Bedürfnisse unserer Eltern erfüllen, um mehr ging es nicht. Wir hatten einfach nur bedürfnislos zu sein. Meine Mutter war chronisch unzufrieden und viel am rummeckern. Mein Vater ein Alkoholiker und nur am stänkern. Ich erinnere mich, dass ich immer wenn ich z.B. bissel Kleingeld brauchte oder mal ein bisschen Kosmetik oder eine Hose erstmal zu Hause die Stimmung eruieren musste, um dann allen Mut zusammenzunehmen, um danach zu fragen, wenn ich falsch lag, gabs Donnerwetter, wenn ich Glück hatte, keins. Immer wurde dann der Frust über wohl zu wenig Geld, wieso ich was brauche, wieso ich schon wieder was will über mich ergossen. Meine Ansicht dazu hat nicht interessiert und sollte meinerseits auch nicht geäußert werden.
Ein Beispiel, was mir wieder bewusst wird und mir das erste Mal so einiges klar machte. Die ganz schlimmen Sachen habe ich wohl verdrängt, damit ich überleben konnte. In der 2. Klasse war Fasching. Meine Mutter war mal wieder uninteressiert und überfordert und sie besorgte mir kein Faschingskostüm (hätte ja Geld gekostet), sondern flickte so verschiedene Stoffreste auf einen Pullover und setzte mir ein hässliches Omakopftuch auf. Als ich fragte, was bin ich denn... sagte sie, ich soll mich nicht so anstellen, ist doch nur Fasching und dann bin ich eben ein Lumpenmädchen. Ich wusste gar nicht was das ist, merkte aber selbst, dass ich das keinem erzählen kann, weil es wohl nichts Gutes ist wie Prinzessin, Ritter, Prinz, Frosch oder was auch immer. Und so fühlte ich mich auch beim Fasching, klein, nichtssagend, eben das „Aschenbrödel“.
Das ist jetzt son Beispiel, was sich aber noch durch andere in der Form durch mein Leben zieht. „Das steht dir nicht zu“. „Ach, du bist ja nur ne Last“. „Sei doch einfach mit dem bisschen zufrieden“.
Meine Kindheit war anstrengend. Ich merkte das, weil ich mich jetzt mit über 40 so erschöpft fühle vom Leben. Und dabei könnte ich stolz sein auf mein Leben. Habe zwei Kinder großgezogen (mehr alleine als zusammen mit einem Partner), mein Arbeitsleben war und ist abwechslungsreich, bin jetzt seit einem halben Jahr Oma und vom Leben her ein fröhlich eingestellter Mensch. So im Groben kann ich sagen, das Leben war gut zu mir, wenn nicht aber die anderen Sachen sind, die mir langsam auffallen: Dass ich keine Beziehungen mit Männern eingehen kann, ich entscheide mich nie für den netten Mann, immer für den der süchtig ist oder mich eigentlich gar nicht will. Ich kann nicht meine Bedürfnisse äußern, ich kümmere mich bis zur Erschöpfung um andere und wenn ich dann mal äußere, dass ich leider mich nicht kümmern kann, dann sind diese Menschen auch noch eingeschnappt mit mir. Ich ziehe Seelenfresser an. Und dann dieses Gefühl, ich werde immer vergessen oder stehe an letzter Stelle. (Aber das Muster habe ich jetzt zum Glück erkannt.).
Und dann fing ich mal an zurückzuschauen. Und dachte so, nee du hast nicht die letzten zwanzig Jahre Stress gehabt, sondern die letzten vierzig.
Meine Mutter ist heute noch kaltherzig, geizig und weiß gar nicht wie ich im Leben über die Runden komme, interessiert sie nicht. Fragt auch nicht. Sie interessiert sich nur für Kriegsfilme, Kriegsbücher. Mein Vater sitzt den ganzen Tag in seinem Zimmerchen und trinkt. Wenn wir uns mal sehen, muss er immer noch stänkern und abwertende Sachen zu mir sagen wie früher. Beide wollen eigentlich nur ihre Ruhe und hoffen, dass die „Kinder“ bloß nicht aus der Reihe fallen, dass sich in deren Leben bloß nichts ändert.
Ich kann mit meinen Eltern auf einer ganz oberflächlichen Art und Weise umgehen, da ich mich mal mit der Familiengeschichte beschäftigt habe, was geholfen hat, nicht an ihnen kaputtzugehen, sondern ich sage mir, ok. sie sind traumatisiert, sie werden sich nicht ändern.
Meine Mutter hatte eine ganz arme und grausame Kindheit. 4 Geschwister und selbst eine Mutter, die sowas von kaltherzig war, dass mir als Kind schon die Adern zufroren, wenn wir bei dieser Oma zu Besuch waren. Aber eben diese Oma lebte als Jugendliche 200 m von einem Frauen-KZ (welches von 1944 bis Kriegsende dort in dem kleinen Städtchen „eingerichtet“ wurde), was ich erst letztes Jahr recherchiert habe. Es gibt sogar ein Büchlein darüber und was ich las, erschütterte mich. Natürlich ahnte ich dadurch, was meine Oma durchlebte und warum sie ihr Leben lang so war, wie sie war. Nun kann ich vieles besser einordnen und habe meinen Frieden damit gemacht.
J.T., Februar 2015

 

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Leider zu spät

Seit einigen Jahren arbeite ich - nach einer eher naturwissenschaftlichen Karriere - mit Flüchtlingen in Australien. Durch meine enge Zusammenarbeit mit Psychologen und Counsellors kam ich zum ersten Mal mit dem Konzept des „transgenerational Trauma“ in Kontakt. Kürzlich hatte ich ein Gespräch mit einem meiner Klienten - ein Flüchtling des Genozids in Ruanda - der sehr besorgt um die „mental health“ seiner Kinder war. Ich habe mit ihm darüber gesprochen, wie eigene Kriegserfahrung als junger Mensch an seine Kinder weitergegeben werden kann und habe arrangiert, dass er einen unserer Counsellors trifft um mehr darüber zu erfahren und möglicherweise Strategien zu finden, damit besser umzugehen.
Seltsamerweise - obwohl ich nun in diesem Bereich seit fünf Jahren arbeite - ist mir dann zum ersten Mal bewusst aufgegangen, dass ja auch ich selber ein Kind von Eltern und Großeltern bin, die einer Vielzahl von Kriegstraumata ausgesetzt waren. Ich bin 1963 geboren. Dies hat mich dazu angeregt im Internet zu forsten, ob mittlerweile auch in Deutschland angekommen ist, dass sich vergangenes Kriegstrauma auf unsere Gesellschaft massiv ausgewirkt hat. Dabei bin ich auf Ihre Webseite gestoßen.
Obwohl mir seit längerem bewusst war, dass meine Eltern und Großmütter traumatische Erlebnisse mit sich trugen, so war mir doch nie in den Sinn gekommen, dass dies auch mich betroffen hätte. Leider kommt diese Erkenntnis ein wenig zu spät um ein verkorkstes Familienleben auf konstruktivere Füße zu stellen und all die abgebrochenen Brücken in meinem Leben wieder aufzubauen.
Was mich ärgert: Da sind wir, eine Generation von kinderlosen Frauen, jahrelang als egoistische, karrieregeile Feministinnen beschimpft worden. Dabei sind wir in Wirklichkeit Teil einer traumatisierten Nation von Männern und Frauen, die unfähig sind, Bindungen einzugehen. Eigentlich ist eine Entschuldigung seitens gewisser politischer Kreise fällig.
Erstaunlich auch, wie lange die akademische Szene der Psychologen und Soziologen das Thema Kriegstrauma in Deutschland schlicht übersehen hat. Zu „wissen“ hätte mir vieles leichter gemacht - und hätte vielleicht zu weniger „Brückenabbrüchen“ geführt.
Ute, November 2014

 

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Das Denkarium

Diesen Text habe ich im vergangenen Jahr geschrieben, doch erst vor einem Monat bin ich auf das Thema Kriegsenkel aufmerksam geworden. Ich habe kein einziges Wort im Nachhinein verändert und finde es frappierend, wie sehr ich in dieses „Raster“ passe. Das gibt mir eine gewisse Bestätigung, befreit mich aber leider nicht von meiner großen Wut... auf wen eigentlich...? Nun der Text:
Ich beginne diesen Text mit einem Fazit: Ich will nicht für das Glück meiner Eltern verantwortlich sein, weil ich ein Recht auf meine eigene seelische Unversehrtheit habe.
Das meine ich so, mich beschäftigt das Thema jedoch so sehr und tagtäglich, daß ich den Versuch machen möchte, meine Gedanken aufzuschreiben, um mich eventuell von ihnen lösen zu können. Ein „Denkarium“ wie in Harry Potter zu haben, wäre gut.
Meine Mutter ist manisch depressiv seit ich denken kann. Als ich vier Jahre alt war, hatte sie einen schweren Nervenzusammenbruch, so nannte man das damals, kam nicht mehr aus dem Bett und weinte stundenlang laut vor sich hin. Bindung und Urvertrauen - Fehlanzeige.
Meinen Vater habe ich zu Hause nur als cholerisch erlebt, meine Erinnerungen sind geprägt von Angst und Schuldgefühlen meinerseits, weil ich nicht helfen konnte und dem Wunsch, trotzdem normal zu leben.
Meine Dankbarkeit meinen Eltern gegenüber „beschränkt“ sich darauf, daß ich materiell alles hatte, was ich für meine Entwicklung brauchte, mein Hobby Musik wurde voll unterstützt, obwohl das Interesse an der Sache sich in Grenzen hielt, was aber nie ein Problem für mich war. Meine schlimmsten Erinnerungen bis ins Teenageralter von 18 Jahren waren stundenlange Brüllereien meines Vaters, der sich in Vorwürfen an meine Mutter erging und jeder kleine „Fehler“ von ihr konnte diese Explosionen auslösen, eine dumme Frage reichte schon. Anfangs stritten sie sich noch, nach Jahren der Zermürbung gab es nur noch einseitige Hasstiraden. Worum es ging, konnte ich im Grunde nicht verstehen als Kind, da es oft aber vordergründige Nichtigkeiten waren, vermutete ich, daß auch ich selbst solche Fehler machte und nur nicht so angebrüllt wurde, weil ich noch ein Kind war. So etwas führt zum Wunsch und der Anstrengung ein perfektes Kind sein zu müssen, um wenigstens nicht auch noch Anlaß für Stress zu sein. Ich war immer eine Bestschülerin, das war auch ein Halt und die Bestätigung tat mir gut, also nicht von Nachteil, Abitur mit 1,2, Studium ähnlich. Die Schulen, besonders die Musikschule, gaben mir ein auch emotionales Zuhause, zum Glück hatte ich sehr gute Lehrer, obwohl ich mich jetzt frage, ob die Zuneigung nicht mehr meinen Leistungen galt. Die Arbeitsmoral habe ich eindeutig von meinem Vater übernommen, auch nicht ganz schlecht.
Ich habe mich sehr viel nach außen orientiert, um Normalität zu spüren. Da wir auf dem Land leben, gab es eine viel größere soziale Kontrolle im Umfeld. Das heißt, es war (auch mir) immer wichtig, was die Leute denken könnten. Wenn meine Mutter manische Phasen hatte, lief sie im Dorf herum und erzählte z.T. fremden Leuten von ihren Problemen. Ich war das Kind von „der Verrückten“ und mußte das durch angestrengte Normalität, Erfolg und Seriosität ausgleichen, weil ich auf keinen Fall auch so stigmatisiert werden wollte. Mir war das oft so peinlich, heute tut es mir fast leid dafür.
Mein Vater war nach außen immer der Macher, zu Recht einerseits, andererseits fragte er sich nie, warum meine Mutter nicht funktionierte, wie er wollte. Die cholerische Art brach allerdings manchmal in der Öffentlichkeit durch, ich erinnere mich jetzt nur an ein Beispiel aus der Schule: Es wurden von einigen Rabauken die Ranzen umhergeworfen, mein Vater hat meine Klassenlehrerin (25 Jahre alt) so zusammengefaltet, daß sie völlig gelähmt und sprachlos war, ich war nicht dabei, aber sie hat mich am nächsten Tag zur Seite genommen und fast geweint, weil sie es unbedingt los werden wollte, so schlimm war das für sie. Ich konnte ihr vor Scham nicht mehr in die Augen sehen und habe daraus gelernt, zu Hause nichts mehr von meinen Problemen zu erzählen. In der Pubertät war ich einfach nur ruhig nach außen hin und habe innerlich gemotzt.
Verdammt, ich war oft traumatisiert!!!!! Nicht zu merken, wie es mir als abhängiges Kind ging, das verstehe ich einfach nicht. Sei nicht so maulfaul! eine Anweisung meines Vaters, als ich mit Kloß im Hals kurz vor dem Weinen am Abendbrottisch saß. Übrigens habe ich eine Abneigung gegen fast alle Speisen aus meiner Kindheit, das ist ein interessanter Zusammenhang. Ich habe auch oft stundenlang in meinem Zimmer geweint und fieberhaft überlegt, wem ich mich anvertrauen, wer mir irgendwie helfen kann, wie ich da raus komme. Aber es gibt über den Eltern keine übergeordnete Instanz, die einen da rausholt, das war mir klar, meine Parole hieß durchhalten und unabhängig werden. Eine klare Regel, die ich für mich aufgestellt habe und hinter der ich bis heute stehe, ist, finanziell nicht abhängig zu werden, in die Familienfalle zu geraten und mich von einem Mann demütigen zu lassen, ich habe all das geschafft und einen wunderbaren Partner gefunden.
Familie ist für mich auch ein ambivalenter Begriff. Geborgenheit und bedingungslose Liebe habe ich so nicht gespürt, sicher war da etwas in dieser Richtung vorhanden, ich habe mich aber zu einem vorsichtigen, distanzierten Kind entwickelt. Als Berufsmusikerin bin ich sowieso exotisch und nicht zu verstehen, wie man so unplanbar leben kann. Die Verhältnisse haben sich aber auch in seriösen Berufen mittlerweile angenähert.
Unsere Familie ist durch ihre Geschichte der Vertreibung aus der alten Heimat Bukowina sehr eng geblieben, Leute von außen kamen da schwer rein, es wurde und wird viel über die „Heimat“ gesprochen und idealisiert. Für mich war das ein nie richtig ankommen in der neuen Heimat, das hat mich genervt. Meine Familie erlebte ich auf Geburtstagsfesten immer so, daß z.B. über alles hauswirtschaftliche stundenlang geredet wurde, aber nie über wirkliche Probleme, über Gefühle oder Beziehungen. Jetzt sehe ich das etwas gelassener, obwohl ich immer noch platzen könnte, weil einfach die wichtigen Dinge des Lebens, die vielleicht persönlicher und aufwühlend sein könnten weggedrückt werden, weil scheinbar das Wetter viel wichtiger ist.
Ich habe leider immer noch nicht den Mut gefunden, meinen Vater oder besser noch meine Tante zu fragen, wie das mit der Krankheit meiner Mutter angefangen hat, so etwas ist doch nicht angeboren, was hat sie erlebt? Diese Generation hat Probleme und Erfahrungen, die ich nicht kenne, weil niemand mit mir geredet hat, wahrscheinlich wäre ich einfühlsamer mit meinen Eltern, wenn ich etwas wüßte, so habe ich nur die Auswirkungen ertragen müssen. Ein verpfuschteres Leben, als das meiner Mutter, habe ich noch nicht erlebt. Ich denke, daß die späte nicht mehr erwartete Schwangerschaft mit mir sie gebrochen hat. Vielleicht wollte sie meinen Vater verlassen und hat es dann wegen des Kindes nicht gewagt, obwohl das für eine Frau in der DDR gut möglich war, alleinerziehend zu leben. Also wieder ein Selbstvorwurf an mich. Die katholische Kirche spielt mit ihrer Moralkeule sicher auch eine Rolle. Eine miese Ehe muß trotzdem durchgehalten werden. Das Leben wird nach den Aussagen meiner Verwandten ausgehalten, bis man es „geschafft“ hat. Wenn ich das höre, frage ich mich, ob sie eigentlich gern leben oder die Zeit nur abwarten.
Wenn ich mit mir hadere, warum ich meine Eltern so abblocke, kann ich nur sagen, daß das mit meinen tiefsten Gefühlen zu tun hat, ich möchte sie nicht berühren, ich finde es anstrengend, Liebe zu heucheln und tue es auch nicht, weil ich es nicht kann. Was ich tue ist, möglichst freundlich und unverbindlich zu sein, Hilfe zu geben, die den Haushalt betrifft und Behördengänge, sachliche materielle Hilfe zu geben, weil das auch die Art war, wie meine Eltern mit mir umgingen.
Einiges von dem, was ich geschrieben habe, scheint oder ist ungerecht, aber ich fühle so und kann mir andere Gefühle nicht einpflanzen, wenn sie nicht da sind. Ich finde es in Ordnung, ein Kind so ins Leben zu entlassen, dann aber ohne moralische Verpflichtung. Mir selbst würde es gut tun, getrennte Wege zu gehen.
Isolde, geb. 1970, August 2014

 

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Meine Geschichte als Kriegsenkel

Gestern besuchte ich eine örtliche Bäckerei, in der täglich ein Mann Ende 50 herumsitzt und Kontakt sucht. Er wollte etwas loswerden über die frühere Elterngeneration: Sie hätten 1 bis 2 Lieblingskinder gehabt. Den Rest hätten sie verprügelt.
Prügel habe ich Zuhause und auch (manche glauben es mir nicht) in Kindergarten und Schule erhalten. Meine Schwester, geb. 1972, war das Lieblingskind - schöner, schlanker, sportlicher - so erklärten sie es mir!
Irgendwie bin ich dann, als ich mich im Internet mit dem Thema geprügelte Generation beschäftigen wollte, auf die Kriegsenkel gestoßen. Es hat sofort Klick gemacht!

Im vergangenen Jahr glaubte ich einen Erklärung für das Verhalten meiner Mutter gefunden zu haben, weil ich mich mit dem Thema Asperger Autismus beschäftigte. Sie ist teilnahmslos, macht einfach ihr Ding, Pauschalreisen nach Ägypten, sterile, praktische Einrichtung (keine Pflanzen oder Deko…), hat ihren Tagesplan, den sie nicht ändern will. Z.B. wollte sie uns nicht ihr Auto leihen, als wir in Not waren, da sie es in ihrer Garage stehen haben will. Es gibt keine Flexibilität, Spontanität oder Kreativität. Ich habe das Gefühl, sie nimmt andere Bedürfnisse gar nicht wahr oder empfindet sie als störend.
Nun bin ich auf die wahrscheinlichere Variante - dass ich nämlich eine Kriegsenkelin bin, gestoßen.

Meine Mutter war das letzte und dritte Kind, geboren 1938. Ihr Vater fiel 1940. Sie lebte fortan mit ihren Geschwistern, Mutter und Großmutter in einfachen Verhältnissen auf dem Land. Die Geschwister heirateten früh, so dass sie in den Genuss kam, 10 Jahre alleine mit meiner Oma zu leben. Diese Zeit, so sagt sie, war die Schönste ihres Lebens!
Dann war ich unterwegs, sie heiratete meinen Vater, der „mit einem Korb Äpfel“ einzog. Er ist 1935 geboren, ältester Sohn. Sein Vater war nicht im Krieg, stattdessen bei der Eisenbahn. Mein Vater hatte ein sehr distanziertes Verhältnis zu seinen Eltern. Die Begegnungen waren förmlich und fanden nur an deren Geburtstagen und an Weihnachten statt. Ich musste unter Zwang mit. Sonst weiß ich so gut wie nichts über ihn, er erzählte nichts, wir hatten keine Zeugnisse, Bilder o.ä., die wir von meiner Mutter hatten. Seine jüngste Schwester zeigte mir einmal ein Bild, auf dem er neben einem Pater stand - schwer zu sagen, ob er in einer Erziehungsanstalt oder einem Internat war. Mit ihm konnte ich gar nicht reden, er war gleich aggressiv, jähzornig, litt unter Magenschmerzen…

Kurzum, ich war ein einsames Kind.
Die ersten sechs Jahre war meine Oma noch da. Sie starb als ich gerade in die Schule kam. Ich glaube, sie hat mir einige Liebe mitgegeben. Dann war ich mit meinen Eltern alleine und meine Schwester bald da. Meine Mutter meinte „wenn doch endlich das Kind da ist und die Arme ausstreckt“ wäre sie über den Verlust der eigenen Mutter hinweg. Dass ich da war, schien keinen zu interessieren, auch nicht, dass ich auch jemand verloren hatte.
Ich musste alleine klarkommen, traf meine eigenen Entscheidungen. Nur, wenn das jemand störte, gab es Prügel. Meinen Vater hasste ich aufrichtig und sprach nur das Nötigste mit ihm. Meine Mutter machte mich teilweise zur Komplizin, stand aber nicht zu mir. Um meine Schwester kümmerte ich mich schon früh mit, sie sollte es besser haben.
Ich war nicht blöd, aber an meiner Bildung bestand kein Interesse. Mein Vater wollte mich in die ortsansässige Schuhfabrik schicken.
Eigentlich wollte ich früh ausziehen, war aber nicht selbstbewusst genug, woanders neu zu starten. Ich machte Abitur und studierte auf dem schnellsten Weg Sozialarbeit und stand dann mit 21 finanziell auf eigenen Füßen. Das war nötig, weil meine Mutter sich immer beklagte, was wir alles kosten würden. Eigentlich wäre ich gerne mal für einige Zeit ins Ausland gegangen oder hätte gerne Medizin studiert.

Danach lebte ich nicht mehr Zuhause sondern in ein paar unheilvollen Beziehungen. Ich hatte keinen Hafen, wo ich hinkonnte, wenn es mir schlecht ging. Ich konnte meine Eltern nicht belasten. Gesprochen habe ich wenn dann nur mit meiner Mutter, aber die sagte dann, sie könne davon nicht schlafen, also hab ichs gelassen.
Viele Jahre litt ich an ungewollter Kinderlosigkeit - auch damit konnte ich mich nicht ausheulen. Bei der sehr schwierigen Trennung von meinem ersten Mann schlief ich in einem Hotel.
In meiner zweiten Ehe nahmen wir 3 Pflegekinder auf. Ein Kind verstarb unerwartet - das Schlimmste, was je in meinem Leben passiert ist. Auch hier kein Trost, eine Karte mit 50 Euro! Mein Mann erlebte einen Unfall, bei dem einem Mann der Schädel zerquetscht wurde. Meine Mutter: „Hast du noch nie einen Toten gesehen?“
Meine Eltern leben noch und sind zusammen, wenngleich ich das Verhältnis nie als nahe empfunden habe. Ich bin Christin geworden und versuche mich in Vergebung ihnen gegenüber zu üben - ich versuche es aus der Distanz. Ihre Nähe und wie sie mich immer noch behandeln, kann ich nicht ertragen.
Andrea Anna, geb. 66, Juli 2014

 

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Geboren 1962

Eine Zeit, die für die Kinder des Krieges in der Tat nicht leicht war. Zeit der Orientierung, des Neuanfangs und der ständigen Auseinandersetzung mit radikalen Umstrukturierungen in vielen Bereichen!
Und sicherlich keine TOP-Zeit für einen kleinen, lebhaften Menschen wie mich, der in diesem Jahr geboren wurde. Und das obwohl es eigentlich keinen Platz mehr für mich gab.
Die Welt ist bunt, die Welt ist rund…und…ALLES wird gut! So die Gedankengänge, wenn es mir an wenigen Tagen schlechter ging als an den anderen. Nur…diese Tage haben im Laufe meines Lebens erheblich zugenommen und ich konnte es mir selbst nie wirklich überzeugend erklären. Letztlich schob ich immer irgendetwas einigermaßen Plausibles vor und kam damit zurecht…bis zu einem gewissen Punkt.

Die Geburtsdaten meiner Eltern: Mutter 1923, Vater 1918. Also kann ich mit Fug und Recht behaupten, dass ich ein Nachkömmling war; so wie mein Bruder vorher schon, der 1956 das Licht der Welt erblickte und damit schon einen geraumen Abstand (körperlich wie auch emotional) zu mir hatte.
Zu viert lebten wir in einem Einfamilienhaus (oberste Etage) auf dem Land und damit etwas beengt, weil ein anderer Bruder das Erdgeschoss mit seiner Familie belegte. Zwei weitere Geschwister waren bereits ausgezogen. Ich teilte mir mein Zimmer mit dem eben beschriebenen Bruder und wir verbrachten die Nächte (sehr zu seinem Leidwesen) in einem gemeinsamen Bett.
Über Krieg wurde in unserer Familie fast nie geredet. Vater war Flugzeugführer und Mutter im „Bund Deutscher Mädels“ gewesen. Erst im Erwachsenenalter erfuhr ich einige wenige Details, die aber immer beschönigt wurden, weil...unsere Familie war immer perfekt (zumindest nach außen hin). Bei uns wurden keine Fehler gemacht! Bei uns war die Welt voller Sonnenschein. Bei uns gab es nie Streit und bei uns war „Pleasantville“ pur.

Meine Gefühle zu der Zeit damals, die ich heute noch nachempfinden kann und mich begleiten:

- Angst vorm Alleinsein, ...denn meine Geschwister waren schon so weit weg und halfen mir nicht.

- Angst vorm ungeliebt sein, ...denn ich suchte ständig nach Aufmerksamkeit und löste damit kleine Katastrophen aus.

- Angst vorm Verlassen werden, ...denn ich sorgte mich unbewusst ständig um das Wohl meiner Eltern, obwohl sie sehr streng waren.

- Angst vor meiner Mutter, ...denn sie strafte häufig und sehr schmerzhaft.

- Angst vor meinem Vater, ...denn er musste umsetzen, was Mutter ihm berichtete/mir androhte.

Wenn ich heute so zurückschaue und mir viel Zeit dafür nehme, dann tauchen viele Begebenheiten plötzlich wieder auf, die mein Unverständnis schüren und die Reaktionen meiner Eltern auf mein Verhalten für mich nicht wirklich erklären lassen.
Warum wurde ich einerseits geliebt und dennoch ständig bestraft, nur weil ich mich genauso verhielt wie andere Altersgenossen?
Warum wurden meine Fragen zu Sexualität, Kirche oder dem Krieg immer negiert bzw. als verboten abgetan?
Warum gab es keine warmherzige Körperlichkeit zwischen meinen Eltern?
Warum war alles tabu, was nur in kleinster Weise den Anschein erwecken konnte, in unserer Gesellschaft als negativ eingestuft zu werden?
Fragen über Fragen, die mir keiner mehr beantworten kann, weil meine Eltern zwischenzeitlich beide verstorben sind.
Fakt ist, dass ich die Erziehung meiner beiden Töchter völlig anders angelegt hatte. Es war quasi eine 180grad-Wende zu dem was ich erlebt hatte und das Feedback ist mehr als positiv, warmherzig und kommunikativ. Von dieser Warte aus habe ich etwas Positives aus meiner Vergangenheit gezogen, worauf ich ein wenig stolz bin, mich aber von meinen eigenen Ängsten nicht befreit, die mich immer wieder einholen.
Wie oft ertappe ich mich dabei mir zu sagen, dass das ein oder andere Glück mir eigentlich nicht zusteht. Dass die eine oder andere Entscheidung mehr angepasst an gesellschaftliche Strukturen sein müsste, obwohl es niemanden etwas angeht. Dass ich meine Körperlichkeit nicht offen ausleben darf, weil jemand daran Anstoß finden könnte. Dass ein gewisser „Gott“ mir immer auf die Finger schaut, egal was ich tue und die gerechte Strafe schon noch kommen wird.
Ich bin glücklich (wieder) verheiratet und habe eine sehr verständnisvolle Frau (46), die so ganz anders aufgewachsen ist als ich und diese Art von Ängsten gar nicht kennt. Wir sind beide gut situiert und die Welt könnte eigentlich immer schön sein. Nur immer wenn es am schönsten ist, frage ich mich, ob das alles auch so sein darf?
Seinen Höhepunkt hatten all diese Infragestellungen vor etwa drei Jahren. Ich habe es nur schleichend bemerkt, dass etwas ganz und gar nicht stimmte mit mir. Krankheitssymptome wie ständiger Durchfall, Magendruck und Gehetztheit begleiteten mich immer öfters. Ich war unzufrieden mit meiner Arbeitsleistung (manchmal bis zu 16 Stunden am Tag), hatte Angst vorm Versagen und die kleinste Kritik stürzte mich in Depressionen.
Schließlich quittierte mein Körper die ganze Situation mit einem heftigen Burnout, aus dem ich lange nicht herauskam.
Ich habe mein Leben nunmehr vollkommen umgekrempelt, mögliche Stressoren beseitigt, ein anderes Arbeitsfeld angenommen und bin eigentlich wieder glücklich...eigentlich.

Es ist ein Rest geblieben und ich arbeite daran, aber es ist nicht leicht. Ich bin zu der Überzeugung gelangt, dass ich meinen Eltern nichts vorwerfen möchte; sie hatten auch ihr Päckchen zu tragen, aber ich distanziere mich immer weiter von ihnen, insbesondere von meiner Mutter.
In der Hoffnung, meine Ängste doch noch irgendwann los zu werden, arbeite ich weiter an mir.
Achim O. November 2013

 

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Neuer Beitrag

Ach, wie tröstlich ist es, sich einer Familie anschließen zu können, die sich zwar nicht persönlich begegnet ist, sich aber möglicherweise besser kennt als den jeweils eigenen Freundeskreis! Als Kind hatte ich die Vision, die alten Grenzen Deutschlands wieder herstellen zu können, wenn ich mich vor dem Brandenburger Tor dafür opferte, Selbstverbrennung schwebte mir vor. Dann wäre Omi wieder glücklich und die Familie könnte zurück in die Heimat. Omi sprach nicht, sie zeigte irgendwie die Trauer, ohne dass ich mich schuldig fühlte, bei Mutti fühlte ich mich schuldig. Keine emotionale Nähe zur Mutter, wie bekannt mir das vorkommt. Mich und meine Bedürfnisse nicht wahrnehmen dürfen, wie gut zu lesen, dass es anderen auch so geht. Heimatlos sein – genau. Ich habe immer weinen müssen, wenn ich von Polen oder Pommern gesprochen habe, bis in die jüngste Vergangenheit. Dann habe ich ein Buch geschrieben und meine Gefühle, meine Bindungsprobleme, die ganze Verstrickung einfließen lassen. Das hat mir geholfen.
Ich danke allen, die sich auf dieser Seite gezeigt haben.
E.K., Oktober 2013

 

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Martin Schiffel (*1966): Die seelischen Trümmer (nach den bionischen Kriegen), 2012
Aquarell, ca. 21 x 30 cm

 

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Emotionales Vakuum

mit Erleichterung bin ich auf dieses Forum gestoßen und möchte auch meine Lebensgeschichte erzählen.
Ich bin im Jahr 1961 geboren. Meine Eltern waren 11 und 13 Jahre alt, als der Krieg ausbrach. Beide lebten in einer Stadt mit viel Industrie. Mehrfache Bombenalarme waren an der Tagesordnung.

Mein Vater wurde mit 16 Jahren eingezogen, wurde Flakhelfer. Am Ende des Krieges wurde er gefangen genommen und verbrachte zwei Jahre in einem Kriegsgefangenenlager im europäischen Ausland. Anschließend wurde er als Zwangsarbeiter bei Bauern eingesetzt. Mit 21 Jahren kehrte er zurück.
Meine Mutter wurde ausgebombt, verschüttet, gerettet, evakuiert. Auf der Heimfahrt erlebte sie einen Angriff von Tieffliegern, der den Zug beschoss.

Meine Eltern waren freundliche Menschen aber emotional nicht zugänglich, insbesondere nicht für kindliche Not. Weinende Kinder waren eine Bedrohung. „Was ist denn mit Dir los? Stell Dich nicht so an!“

Meine Kindheit habe ich in Schwere verbracht, ein bleiernes Vakuum schien uns zu umgeben. Ich wurde depressiv, begann, mich zu hassen, hielt mich für die Ursache der Schwere. Mit 16 Jahren beging ich einen Selbstmordversuch, den meine Eltern als „jugendlichen Blödsinn“ einstuften. Undenkbar, dass echte Not dahinter stecken könnte. Mit Ende 20 begann ich wegen starker sozialer Ängste Therapie, die mir sehr half. Es folgte eine stabile Phase mit Familiengründung, beruflichem Erfolg.

Im Jahr 2011 schließlich erlitt ich einen burn out und wurde von Erinnerungen aus der Kindheit überflutet. Ich verließ die Psychiatrie mit der Diagnose „komplexe posttraumatische Belastungsstörung“, bin derzeit berufsunfähig und versuche, gesund zu werden.

In der Therapie wird deutlich, dass ein Deckel auf der Familie lag. Angst durfte man nicht haben. Meine Eltern erzählten zwar von ihrer Kriegskindheit, aber ohne jede emotionale Beteiligung.

Und es scheint so zu sein, als sei es mein Part, die Angst, die meine Eltern verdrängen mussten, das Entsetzen vor dem unsagbar Bösen, in dem ihre kindliche Welt versank, zu fühlen und zu überwinden. Die seelischen Trümmer habe ich wegzuräumen. Das Trauma ist bei mir gelandet und vielleicht auch bei meinen Kindern.
Y., Juli 2013

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Befreiung

So viele schöne Texte, so viele Ähnlichkeiten, so viel Leid und doch so viel Zuversicht!

Bin Jahrgang 1958, geboren in Berlin (West). Habe in den letzten Jahren mehrere „Brüche“ in meiner Biographie gehabt. Zweimal aus dem Job geschmissen, mühsam wieder auf die Füße gefallen. Habe trotz jahrelanger Psychotherapie und „Werkstatt Psychologie“ nicht das Gefühl gehabt, beim Ursprung meiner Störung angekommen zu sein. Irgendwann habe ich mir dann gedacht, Du bist einfach „spinnert“. Dauernd NS-Vergangenheit nacherleben wollen, in deutschen Städten nach Einschusslöchern in Fassaden, Luftschutzbunkern oder kriegszerstörten Baulücken Ausschau halten, hatte mir noch vor wenigen Monaten mehrere Hefte „Der Landser“ gekauft! Die letzten hatte ich als Kind gelesen. War immer wieder fasziniert von Berichten über die NS-Zeit. Hab oft auf Wikipedia ganze Schlachten von der Ostfront nachgelesen. Wünschte mir so sehr, dass das nun fast 70 Jahre nach dem Krieg endlich einmal aufhören würde. Habe dann nach und nach an Lebenskraft verloren. Mehrmals stand ich ohnmächtig vor mir und wollte einfach nicht mehr weiter. Doch so von einer Eisenbahnbrücke springen, konnte ich dann doch nicht. Bin in letzter Zeit immer anfälliger für Krankheiten geworden. Vor allem die innere Anspannung mit krampfartigen Bauchschmerzen, den total verspannten Schultern und vielen Erkältungen haben mich richtig ausgezehrt. Wenn ich dann manchmal nachts wegen der Bauchkrämpfe in der Notaufnahme endlich am Tropf der Schmerzmittel hing, ging es mir schlagartig wieder gut. Kaum war die Nadel in der Vene, entspannte sich alles. Der Arzt sprach schon mal von einer Wunderheilung. Organisch war ja nie was festzustellen. Wo kommt das alles nur her?

Leider fand ich auch keinen Anknüpfungspunkt mehr für Tränen. Auch wenn ich wieder einmal mit dem Leben und mir haderte, Tränen wollten einfach nicht fließen. Entspannung wollte sich nicht einstellen.

Bis vorgestern!

Da war ich mal wieder erkältungskrank und zu Hause. Auf der Internetseite der ARD fiel mein Blick zufällig auf eine vergangene Sendung vom Kulturradio RBB. „Ich gegen mich – der heimliche Krieg gegen sich selbst“. Das sprach mich an. Schon bei den ersten Aussagen im Intro hatte ich das Gefühl, dass jedes Wort auf mich passte. Von meinem Sohn ließ ich mir die Sendung im mp3 Format auf den Rechner runterladen und „besitze“ so nun den Inhalt. Er kann mir nicht mehr wegfliegen! In der Sendung hörte ich gegen Ende etwas von einem offenen Erzählcafe für Kinder von Kriegskindern. Bei dem Begriff „Kriegsenkel“ wurde ich sofort hellhörig. Ich hatte zwar vor einiger Zeit das Buch von Sabine Bode „Die vergessene Generation“ über die Kriegskinder gelesen, mich darin aber nicht richtig wiedergefunden. Insoweit war ich wie elektrisiert, dass das Thema Kinder der Kriegskinder tatsächlich existierte. Ziemlich schnell war ich dann beim „Forumkriegsenkel“ gelandet und schon bei den ersten Lebensgeschichten waren sie dann endlich da, die Tränen. Ich heulte so befreit und erlöst und bekam unmittelbar wieder Lebenskraft. Manch eine Lebensgeschichte war so ganz die meine, und den Text von „Ambiguous loss“ hätte genauso ich schreiben können!
S.G., Juli 2013

 

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Der Krieg und seine Enkel

Alles, was ich bisher bei Ihnen gelesen habe, kann auch ich 100% nachempfinden. Dieses „Repetieren von Geschehenem“, die Reinszenierung von Flucht, immer wieder bei „null anfangen“, häufig Umzüge, ich bin innerhalb von 10 Jahren 12 mal umgezogen. Es ist wie eine Sucht. Immer wieder neu anfangen, nur nicht ankommen, sich nur nicht „schuldig“ machen, an der vorherigen Generation.
Auch mit Beziehungen handhabe ich es so und bin mittlerweile ein echter „Beziehungskrüppel“. Keiner darf mir zu nahe kommen.
Einer schreibt im Forum: er/sie lebt auf dem Land, um im Kriegsfall versorgt zu sein. Auch diese Form von Gedanken kenne ich. Ich habe mir überall in Europa ein Freundesnetz zusammengestrickt, wohin ich „fliehen kann, falls der Krieg ausbricht“. (Absurd in der heutigen Zeit, aber sei es drum).
Es ist doch verrückt, dass so viele derselben Generation dasselbe tun. Wie getrieben, und ohne je den Schmerz und das Leid erlebt zu haben, nur um den Menschen ihrer Familie, die aus dieser Generation stammen, „nah“ zu sein. Wie um sich von der Gnade der späten Geburt „reinzuwaschen“. Ist es nicht absurd, im Frieden und im Wohlstand ein Drama um sich herum aufzubauen, um den eigenen Eltern näher zu sein? Ihr Leid nachzuempfinden? Und doch allzu menschlich.
All dies überwältigt mich, es kommt so geballt. Ich war mir bisher nicht bewusst, dass es so viele Menschen gibt, die so ähnlich empfinden und sich mit diffusen Ängsten und Depressionen quälen, die „irgendwie nicht zu ihnen gehören“. Es ist erleichternd und erschreckend zugleich. Aufwühlend und tröstend. Gerne möchte man sie alle treffen und ihnen zurufen: „Hey, Jungs und Mädels, mir geht's genauso wie Euch!“ Und gemeinsam mit ihnen darüber lachen und gemeinsam mit ihnen darüber weinen!
Endlich bin ich nicht mehr allein. Endlich bin ich nicht allein „verrückt“, sondern es ist ein Phänomen. Ein zeitliches Phänomen. Die Zeit ist „verrückt“. Und es scheint an der Zeit zu sein, dass sich immer mehr Leute damit auseinandersetzen und das ausleben müssen. Es aus sich herauslassen müssen. Aus dem eigenen Leben. Um es „leichter“ zu gestalten und nicht immer noch die schwere Last der vergangenen Generation mit sich zu tragen.
Sabine S., April 2013

 

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Stefan Kraft (*1966): ohne Titel (Ich soll...), 1993
Dispersionsfarbe, Schultafellack und Ölkreide auf Nessel, 100 x 400 cm, © VG Bild-Kunst, Bonn 2013

 

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Ein Satz mit fatalen Folgen

Als Kind und Jugendliche habe ich von der Kriegs- und Kriegskinder-Generation immer wieder folgenden Satz zu hören bekommen: „Stell dich nicht so an, dir geht es doch gut!“ Viele werden diesen Satz in ähnlicher Form und Abwandlung kennen.

Den Satz „Stell dich nicht so an, dir geht es doch gut!“ habe ich inhaliert, er brannte sich ein, mit ihm bin ich aus dem Elternhaus ins Erwachsenenleben getreten.

Mehr als 15 Jahre lang habe ich mich seitdem selber vernachlässigt, um anderen, denen es vermeintlich „schlechter“ ging als mir - der es doch „gut“ ging - zu helfen. Bin über meine körperlichen und psychischen Grenzen gegangen, habe viel zu oft noch einen mitgetrunken, wenn der andere es so wollte, habe Kisten für andere geschleppt, obwohl ich Rückenschmerzen hatte, habe zugehört, obwohl ich hundemüde war. „Stell dich nicht so an, dir geht es doch gut!“ Ich habe mich dann immer gewundert, warum ich mit einem Mal völlig ausgelaugt im Bett lag, nicht mehr aufstehen konnte, völlig fertig war mit der Welt.
Vor einiger Zeit habe ich damit angefangen, diesen Satz umzuformulieren:
Ich stelle mich an!
Ich stelle mich quer!
Ich sage Nein zu Dingen, die mir nicht gut tun.
Und noch eins: Mir geht es nicht immer gut, mir geht es manchmal mittelprächtig und manchmal schlecht. Und das ist so, wie es ist, denn ich bin ein fühlender Mensch.
A.F., Oktober 2012

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Ambiguous loss

Ich habe den Kontakt abgebrochen, nachdem meine Mutter auf meine Mail in mehreren Kontaktversuchen auch nicht entfernt eine angemessene Antwort gefunden hat, die einen Dialog zwischen uns möglich machen würde. Sie will einfach nur ihre emotionelle Versorgung wiederhaben, beziehungsweise bestätigt bekommen, dass sie als Mutter nicht gescheitert ist. An mir als Person liegt ihr nicht das Geringste. Diese Situation ist bei weitem nicht so einfach auszuhalten, wie es sich anhört – sie entspricht eher dem, was die Psychologin Pauline Boss als „ambiguous loss“ bezeichnet. Es gibt Phasen, in denen ich jede Nacht von meiner Mutter träume. Aber ich weiss genau, dass Kontakt mit meiner Mutter kein Mittel gegen meine Wut und Trauer ist, sondern mich nur wieder in den alten Kreislauf von Missbrauch und emotioneller Ausbeutung hineinziehen würde. Und ich empfinde heute, dass ich es dem verängstigten, vereinsamten Kind in mir schuldig bin, es vor diesen Erfahrungen zu beschützen. Meine Mutter schreit mich bis heute in den geringsten Stresssituationen besinnungslos nieder. Ich habe lange gebraucht, um nicht nur zu begreifen, sondern wirklich zu empfinden, dass das kein akzeptables Verhalten ist und ich nicht verpflichtet bin, mich dem auszusetzen.
S.B., Mai 2012

 

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Wer hinfällt wird erschossen.

Schon seit vielen Jahren begleitet mich besonders im Berufsleben aber auch im privaten Alltag eine große Versagensangst. Bei jedem vermeintlichen Fehler, bei jeder Schwäche denke ich gleich: „Jetzt ist alles aus.“ Nach Feierabend bin ich oft fix und alle, nicht in erster Linie wegen der Arbeit, sondern wegen der Angst, die mich den ganzen Tag begleitet und mich mürbe macht. Ich habe das Gefühl mich auf einem Todesmarsch zu befinden, wo jeder Fehltritt jedes Fehlverhalten schwerste Konsequenzen nach sich ziehen kann. Der Satz: „Wer hinfällt wird erschossen,“ ist dabei immer wieder in meinem Kopf. Das verstehe ich nicht, denn ich kenne Todesmärsche nur in Zusammenhang mit Judenverfolgungen. Was für einen Sinn macht das? Was soll das mit mir zu tun haben? In belastenden Situationen, besonders wenn fremde Menschen eine Entscheidung über mich treffen, eine Prüfungssituation, oder z.B. kürzlich das Erscheinen zu einem ärztlichen Gutachten wegen der Erwerbsminderungsrente, da habe ich eine Angst als ginge es um mein Leben, als wäre in dem Raum vor dem ich warte ein Typ mit einer Knarre und wenn ich etwas falsches sage oder tue werde ich ohne Federlesens erschossen. Ich verstehe diese Ängste einfach nicht, sie belasten mich immer wieder sehr.
Vor einem Jahr beginne ich intensiv über meine aus Ostpreußen und Westpreußen stammende Familie nach zu forschen. Ich befrage die noch lebenden, durchforste Unterlagen, lese Erlebnisberichte von Personen die ähnliche Schicksale hatten, suche nach historischen Fakten. Ich will es das erste mal ganz genau wissen. Wer in meiner Familie hat was und wann erlebt?
Es gibt eine Fotografie, aufgenommen bei der Konfirmation meiner Großtante Else 1927 in Elbing, Westpreußen. Mein Großvater mit all seinen Geschwistern, seinem Vater, der Stiefmutter und der Stiefschwester. Auf dem Bild sind fünf Frauen und Mädchen und vier Männer. Keiner der Männer fiel im Krieg. Aber von den Frauen überlebte nur eine Schwester die zu Kriegsende in Berlin lebte. Die anderen Frauen lebten in Elbing und kamen 1945 alle um.
Ich lese: „…als schon große Flüchtlingsströme durch Elbing zogen, ging das Leben in der Stadt weiter wie gehabt. Von der Obrigkeit wurde die Parole ausgegeben, das in einigen Tagen wieder alles normal wäre...“. Elbing wurde zwei Wochen sehr hart umkämpft. Danach lag die Stadt fast vollständig in Schutt und Asche.
„...zwei Schwestern, die sind in Russland geblieben..“, hörte ich früher von meinem Großvater. Ich will mehr wissen und lese Erfahrungsberichte von Frauen, die damals in russische Arbeitslager verschleppt wurden. Von den Verhören nach der Festnahme, wo Anschuldigungen fingiert wurden, sie unter Androhung von Folter und Vergewaltigung etwas unterschreiben mussten was sie noch nicht einmal lesen konnten. Ich lese das damals auch mal schnell jemand eine Kugel im Kopf hatte. Ich lese, das der Weg in die Sammellager, von denen aus die Transporte nach Russland gingen oft Todesmärschen glichen. Das es durchaus passierte, das jemand der unterwegs schlappmachte einfach erschossen wurde. Das sehr viele schon auf dem Transport umkamen. Ich bin wie vom Donner gerührt. Kann es wirklich sein, das das Schicksal meiner Großtanten in mir weiterwirkt?
Es gibt Unterlagen vom Suchdienst des deutschen Roten Kreuzes. Daraus geht hervor das Schwester Else im Mai 1945 in einem russischen Arbeitslager verstarb. Zu Klara lese ich:

„Gutachten über das Schicksal von Klara …...geb. 1918
Vermisst seit Februar 1945 nach der Besetzung von Stadt und Kreis Elbing

Das Ergebnis aller Nachforschungen führte zu dem Schluss, dass Klara …. mit hoher Wahrscheinlichkeit nach der Festnahme in der ersten Zeit der Gefangenschaft verstorben ist, noch bevor eine namentliche Registrierung erfolgen konnte.“

Das bedeutet, dass sie nicht in einem Lager starb, sondern irgendwo unterwegs. Endlich macht dieser Satz für mich einen Sinn: „Wer hinfällt wird erschossen.“ Etwas Falsches zu sagen oder zu tun, oder einfach nur Schwäche zu zeigen konnte damals den Tod bedeuten.
Seit ich diese Verbindung hergestellt habe, seit ich über das Schicksal meiner Großtanten mehr weiß, ist dieser Satz in meinem Inneren endlich verstummt. Schon lange hatte ich jetzt schon keine Angst mehr als ginge es um mein Leben.
Es gibt dieses Foto von Klara, das mich schon immer besonders ansprach, schon bevor ich von ihrem Schicksal wusste. Eine Aufnahme am Strand, strahlend, jung und unbeschwert. Hinten drauf eine Widmung für meinen Großvater: „Deine Schwester Klara, Kahlberg Juni 1942“
Erst jetzt wird mir bewusst das sie ein richtiger Teil meines Lebens hätte sein können, wären die Dinge nur anders gelaufen. Großtante Klara, ich hätte dich so gerne kennengelernt.
Obwohl ich die Schwestern meines Großvaters ja gar nicht kannte, kommen mir immer gleich die Tränen wenn ich an sie und ihr Schicksal denke. Hat mein Großvater seine Trauer um sie nie zulassen können? Muss ich deshalb diese Trauer übernehmen?
Marjellchen, Juni 2012

Nachtrag:
Einige Monate nach Verfassen dieses Textes stoße ich auf einen Zeitzeugenbericht: In Elbing wurden im Feb.1945 etwa 800 Menschen von sowjetischen Soldaten zu einem Todesmarsch zusammengetrieben. Zwei Wochen mussten sie zwischen Elbing und dem 21 km entfernten Preußisch Holland hin und her marschieren. Es gab nichts zu essen, immer wieder wurden von den Soldaten kleine Sprengkörper in den Zug geworfen. Wer nicht mehr weiter konnte wurde erschossen. Als der Marsch aufgelöst wurde waren noch ca. 200 Menschen übrig. Sie waren frei und durften gehen.
Marjellchen, November 2012

 

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Stefan Kraft (*1966): aus der Serie Kindheit, 1993
Mischtechnik, je ca. 30 x 21 cm, © VG Bild-Kunst, Bonn 2012

 

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1964 geboren

1964 geboren - 2012 - mit 47 Jahren - inmitten meiner langen Wanderung durch Landschaften von Tiefen- und Traumatherapie begegnet mir plötzlich der Ausdruck „Kriegsenkel“.
Wie ein Sonnenaufgang offenbaren sich mir all die Webseiten und Literaturhinweise, auf die ich treffe.
Das erste Thema das mir begegnet ist „Das vererbte Trauma - Die Kinder der Kriegskinder“.
„Kriegsenkel“ JA! Endlich! Das bin ich.
Und plötzlich lese ich Lebensgeschichten, die meiner zum Verwechseln ähneln. Welche Wohltat. Welches Potenzial an Heilung mag darin liegen - ich kann es nur ahnen.

Geboren bin ich als drittes von vier Kindern.
Meine Mutter war ein Flüchtlingskind aus Oberschlesien. Ihre Mutter hat sie verherrlicht, von ihrem Vater hat sie so gut wie nichts erzählt - und wenn nur schlechtes. Irgendwie gab es den gar nicht.
Die Geschichten von der Flucht, Typhus, ihrem kleinen Bruder im Holzwagen, ihrer Übermutter, ihrer Heimatlosigkeit und ihr grenzenloses Selbstmitleid verfolgen mich bis heute. Abertausendmal und von Kind an war ich Plattform für diese Geschichten und die Gefühle, die dazugehörten - selbst meine Kinder wollte sie gerne noch als Plattform dafür missbrauchen!
Mein Vater war auch ein Flüchtling, er musste als kleiner Bub für seine Mutter und Geschwister sorgen. Auch von seinem Vater weiß ich so gut wie nichts. Nur das er schlecht war und irgendwann - irgendwohin verschwunden ist. Auch für seine verletzte Seele war ich von klein auf ein auserwähltes Auffanglager.
Meine ganze Herkunft ist mir ein Rätsel, und keiner ist in der Lage, mir Antwort zu geben.
Meine Eltern lebten den Wirtschaftswundertraum - nach außen hin. Hinter dieser Fassade herrschte ein Albtraum.
Meine Kindheit geprägt von Schlägen, Geschrei, Einsperren, Emotionale Kälte, Krieg der Eltern, Hass, Verzweiflung, Wut, Angst, Gewalt, Alkohol, immer wieder Umzüge und Vorurteile gegen die Menschen, die bereits an den Orten lebten, zu denen sie zogen. Auf der anderen Seite viel Geld, viel Hab und Gut.
Inzwischen bin ich in meinem Leben 14 Mal umgezogen und noch nicht angekommen - weiß überhaupt nicht, wo ich überhaupt ankommen soll - es war immer so „hauptsache eine Wohnung“ - hauptsache ein Dach über dem Kopf. Aber die Sehnsucht nach Heimat wurde nicht gestillt. An keinem Ort und bei keinem Menschen. Bis heute nicht.
Meine Mutter gibt sich bis heute als die perfekte Frau und Mutter aus - meine Seele kennt aber ein anderes Bild von ihr. Den Peiniger. Den kranken traumatisierten Menschen.
Mit Stolz erzählt sie bis heute, was sie alles geschafft hat in ihrem Leben, wie perfekt sie ist, wie sie alles besser kann als alle anderen - ich sehe aber, dass meine Familie eine einzige Katastrophe ist, und soweit ich zurückdenken kann auch immer war. Ich habe mich von meiner Familie weit distanziert.
Sie hielt sich immer für etwas Besonderes - ich habe mich für meine Herkunft und die Familienverhältnisse immer geschämt. Am liebsten hätte ich Freunden und Bekannten eine Familie vorgelogen, und ab und zu wenn ich ehrlich bin, habe ich das auch getan.
Mit 17 bin ich zuhause ausgezogen, geriet in die Drogenszene, Ausbildung abgebrochen, immer war ich eher Einzelgänger, ich komm nicht so gut mit den Menschen klar, habe mir immer extrem destruktive Partnerschaften ausgesucht und auch lange durchgehalten - das Täterprofil meiner Partner stimmte in vielen Punkten mit dem meiner Eltern überein. Sex spielte eine übergeordnete Rolle in den Partnerschaften - es war das einzige, in dem ich mich seit früher Jugend spüren konnte.
Eine Posttraumatische Belastungsstörung hat man mir zuletzt 2010 diagnostiziert, nachdem ich nach vielen Jahren durchhalten ganz und gar zusammengebrochen war. Erst heute weiß ich, es war ein Zusammenbruch unter der Last der Summe der Ereignisse meines Lebens, die unerträglich waren. Dass dieser Zusammenbruch erst mit 46 Jahren kam, zeugt aber auch von meiner enormen Stärke. Die Drogenszene habe ich verlassen, ich habe zwei Kinder großgezogen, ich habe all die Widrigkeiten meiner Kindheit und späterer Partner überlebt. Ich bin arbeiten gegangen und habe mein Leben aufrecht erhalten. Ich habe angefangen nach Antworten zu suchen, ich habe angefangen nach meiner Identität zu suchen, überall suche ich danach, überall suche ich nach einem Frieden in mir. Ich glaube, da war bislang noch immer der Krieg.
Ich stehe hier und freue mich sehr, dass Menschen Bücher geschrieben haben über die Kriegsenkel. Ich freue mich sehr darauf sie zu lesen. Ich freue mich auf diesen Sonnenaufgang.
Allein mit den wenigen Auszügen aus Büchern, die mir im Internet begegnet sind zu dem Thema ist ein Lichtstrahl in mein Herz gefallen - nur einer - und der erhellt schon.
Ich habe mir heute das erste Buch über „Kriegsenkel“ bestellt. Ich freu mich darauf wie ein Kind an Weihnachten.
Herzliche Grüße an alle Kriegsenkel in der Hoffnung, dass die Seelen unsere Kinder und Kindeskinder in Frieden leben werden.
E.D. April 2012

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Nicht meine Schuld

Ich habe so viele Jahre geglaubt, dass es meine Schuld ist, was mir in meiner Kindheit zugestoßen ist (Jahrgang 1967). Jetzt versuche ich zu verstehen, dass ich nur bedingt etwas dafür kann und meine Depressionen, Minderwertigkeitsgefühle, Probleme in Beziehungen und noch vieles mehr auf den Erfahrungen aus dieser Zeit beruhen und nicht alleine meine Schuld sind.
Mein Vater (Jahrgang 1939) wuchs als ungeliebtes Kind in einer kommunistischen Familie auf. Sein Vater war im KZ, danach an der Ostfront und schließlich ein gebrochener Mann. Seine Mutter kann man als gefühlskalt beschreiben. In der Ehe mit meiner Mutter hat mein Vater alles kontrolliert. Meine Mutter musste zu Hause sein, wenn er nach Hause kam. Sie durfte nicht arbeiten, sich nicht mit anderen Müttern treffen. Sie hat angefangen zu trinken und ist gestorben als ich 17 war.
Mein Vater hat immer versucht mein Leben zu kontrollieren und in seinem Sinn zu lenken. Nur meiner Mutter verdanke ich es, dass ich Abitur machen durfte. Studieren ging dann nicht mehr, meine Mutter war tot und mein Vater wollte, dass ich Geld verdiene. Seit dem Ende meiner Schulzeit laufe ich diesem verpassten Berufseinstieg hinterher.

Meine Kindheit ist geprägt von unkontrollierten Wutausbrüchen meines Vaters. Wüste Beschimpfungen, Schläge, komplettes Ignorieren meiner Person wegen Kleinigkeiten für Wochen. Ich bin morgens aus dem Haus gegangen und hatte Angst nach Hause zu kommen, weil ich nicht wusste, ob mein Vater mit wutverzerrtem Gesicht auf mich wartet und eine Strafe ansteht. Nach einigen halbwegs entspannten Jahren, in denen meine Kinder auch einen Opa hatten, ist der Kontakt seit einigen Monaten wieder abgebrochen. Ich hatte bei einem Besuch gewagt, meinem Vater zu widersprechen. Es ging um das Datum, an dem ich meinen Führerschein gemacht habe. Und ich vermisse ihn nicht. Eigentlich geht es mir besser. Keine Pflichtanrufe (er wohnt 600 km entfernt), keine sinnlosen Gespräche über das Wetter, weil er sich nicht für mein Leben interessiert. Ich habe sowieso alles falsch gemacht in seinen Augen. Weil ich andere Interessen habe und andere Prioritäten habe als er. Weil ich arbeite, meine Kinder zu selbständigen und selbstbewussten Menschen erziehe und mit ihnen diskutiere. Weil ich nicht erwarte, dass sie meine Meinung als die einzig Wahre anerkennen.

Ich bin sehr froh zu wissen, dass andere mit ähnlichen Problemen zu kämpfen haben. Und das ich in dem, was ich tue und wie ich es tue normal bin. Jetzt muss ich noch die Selbstzweifel und Depressionen bekämpfen. Und vielleicht den Rest meines Lebens mit der Gewissheit verbringen, dass ich etwas wert bin und wert bin, mich zu mögen und von anderen gemocht zu werden.
B. S., April 2012

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Lebensgeschichten

Dass meine Mutter eine Vertriebene ist und als Kind mit ihrer Familie fliehen musste vor den Russen, wusste ich schon lange. Manchmal erzählte sie von den Erlebnissen, der Zeit im Wald Ende Februar 1945, der Gott sei Dank nicht so kalt war, oder der Flucht selber, wo sie wieder einmal aus dem Dorf vertrieben wurden, gar nicht mehr so viel mitnahmen, weil sie immer wieder zurück kamen – nur dieses Mal nicht mehr, dem Erlebnis an der Neiße, wo sie ihre Schubkarre da lassen sollten und sie schrie, weshalb sie die Schubkarre doch mitnehmen konnten, oder dass sie und ihre Schwester ihren Vater vor den Russen beschützten, indem sie sich an seine Arme klammerten und schrien, sodass die Russen ihn nicht mitnahmen, von den Vergewaltigungen, die sie andeutete und von der auch ihre älteste Schwester betroffen war (Jg. 1930)… Wenn meine Mutter so davon erzählte, sagte ich irgendwann immer, dass schließlich die Deutschen den Krieg angefangen hätten und selber Schuld seien – weil ich es so in der Schule in der DDR vermittelt bekam und glaubte. In den letzten Jahren, ich bin jetzt 43, realisiere ich erst, was es für die Menschen damals wirklich bedeutet haben muss und gerade auch für die Kinder – heute, wo ich selber Kinder habe im Alter meiner Eltern damals (beide Jahrgang 1935) und ich im Alter meiner Großeltern bin (Jahrgang 1901 und 1906). – Väterlicherseits gab es zwar weder Flucht noch Vertreibung aber mein Großvater wurde ein paar Tage vor Kriegsende von einem russischen Soldaten erschossen, da er keinen Schnaps rausgeben wollte aus seinem Geschäft. Auf dem Weg zum Kommandanten, wo er sich beschweren wollte, wurde er erschossen. Was muss das für die Familie bedeutet haben? Mein Vater erzählte auch von einem Zwangsarbeiter, ein junger Mann aus Frankreich, dem Jean (deutsch ausgesprochen, also Je-An). Ich denke viel darüber nach, was damals wirklich alles gelaufen ist. Mein Opa war in der NSDAP, er hatte einen Zwangsarbeiter – war das alles normal?

Vor ca. 9 Jahren, nachdem mein Vater plötzlich starb, kam ich in eine ziemliche Krise. Ein Jahr später, als es immer schlimmer wurde, begab ich mich in Beratungsgespräche, um zu orten, was los ist in meinem Leben. Aber alles war so diffus. Der Berater schien irgendwie auch überfordert. Irgendwann sagte er, er würde aus mir nicht schlau. Aber ich lernte in dieser Zeit, mich selber wahrzunehmen und darüber zu reden. In meiner Familie sprach man nicht darüber, wie es einem geht. Es ging einem eigentlich immer gut – zumindest wurde das erwartet. Uns sollte es doch besser gehen, als meinen Eltern. In letzter Zeit kam mir wieder eine Situation in den Sinn, dass ich nach dem Baden als Kind mich in das Badetuch einhüllte und mir vorstellte, irgendwo allein zu sein, wie die armen Kinder im Kapitalismus und mich bemitleidete. Ich war einfach einsam in meiner Familie. Als Jugendlicher hatte ich immer wieder Zeiten, wo ich am liebsten Schluss machen wollte. Manchmal frage ich mich, was meine Eltern wohl dazu sagen würden, wenn sie gewusst hätten, was in mir wirklich vorging. Es wirkte alles etwas steril, gefühllos, es musste alles einfach laufen, man musste einfach funktionieren, dann war alles gut. - Als mein Bruder und ich uns mal unterhielten über die Probleme, die wir in der Schule hatten als Teenager, sagte meine Mutter nur, dass wir in unserem Alter doch noch keine Probleme hätten. Klar, im Vergleich mit dem, was sie erlebt hatte, waren das nur Peanuts.

Merkwürdigerweise habe ich einige Bilder vor Augen und nehme die Stimmungen war, obwohl ich nicht dabei war, wie von dem Tag, als mein Großvater erschossen wurde. Ich weiß, dass es nicht das originale Bild ist, das Hoftor z.B. sah damals anders aus, aber ich weiß, dass es der Tag ist und ich frage mich, wieso mich das nicht loslässt. Auch habe ich ein Bild vor Augen von dem Friedhof meiner Großeltern mütterlicherseits, dass es so nicht gibt. Die Gräber liegen ruhig und friedlich im Sonnenschein. Aber ich suche die wahre Bedeutung des Bildes. Unweit des Friedhofs führt nämlich die Autobahn vorbei, auf der die Flüchtlinge damals in Richtung Westen zogen und diese ist heute stark befahren.

Als vor einem Jahr meine Mutter und ihre Schwestern sich dort trafen auf diesem Friedhof zu den Todestagen meiner Großeltern, die dicht beieinander liegen, ging es nur um dieses Thema. Eine Tante fragte, ob es ihnen auch so ginge, wenn sie nachts nicht schlafen könnten, dass sie dann an die Heimat denken müssten. Es fiel das Stichwort „Flüchtlinge“, was diese Tante monierte, sie wären keine Flüchtlinge sondern Vertriebene, das wäre ein Unterschied. Das Treffen dauerte etwa eine halbe Stunde, aber das Gespräch ging nur um dieses eine Thema. Das fand ich sehr interessant, wie einschneidend und verändernd und bestimmend das für sie ist.

Kürzlich dachte ich auf der Autofahrt morgens darüber nach, was mein Vater nach dem Krieg so alles erlebt hat, dass er sich so zurückgezogen hatte. Und ebenso ein Bekannter von ihm. Und dann wunderte ich mich darüber, dass ich darüber nachdachte.
Ich denke manchmal, dass ich meinen Vater nie richtig kennen gelernt habe und sehe und befürchte, dass sich manches wiederholt, z.B. in puncto Rückzug…

Im letzten Sommer besuchte ich eine mehrtägige christliche Veranstaltung in Lüdenscheid. Dorthin wurden Verwandte meiner Mutter vertrieben und liegen nun dort begraben. Vor einigen Jahren hatte ich dieses Dorf bereits besucht, um mal zu schauen, wie es dort so aussieht und wo meine Verwandten gewohnt haben. In einer Mittagspause nun hatte ich den Wunsch, auf den Friedhof zu fahren und die Gräber zu suchen. Also machte ich mich auf den Weg und fand fast sofort die Gräber, scheinbar intuitiv. Unglaublicherweise heulte ich dort fast wie ein Schlosshund, obwohl ich diese Leute nie selber kennen gelernt habe. Sie schickten uns oft Pakete zu Weihnachten. Nachdem ich die Gräber kurz darauf nochmals besucht habe, habe ich Frieden darüber.
U.S., Januar 2012

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Die Tochter eines Flüchtlingskindes aus Ostpreußen erzählt

Die Familie meiner Mutter hat zweimal „bei Null wieder angefangen“. Nach der Flucht im Januar 1945 aus Ostpreußen nach Sachsen, und als sie 11 Jahre später "nach dem Westen" gingen, lebten sie viele Jahre unter sehr einfachen Bedingungen, froh überhaupt eine Bleibe zu haben. Erst 1962 nach vielen Wohnungs- und Wohnortswechseln hatten sie wieder die erste „schöne“ Wohnung, wie meine Oma in ihren Memoiren schrieb.

Ich selbst bringe es inzwischen auf über 20 verschiedene Wohnsitze, wenn ich kürzere Aufenthalte wie Zwischenmieten und Unterbringungen während Praktika mitzähle. Meine Bleiben waren meist sehr bescheiden, ich fand es gut, mit wenig auskommen zu können. Zeitweise wohnte ich zusammen mit hässlichen muffigen fremden Möbeln, Kakerlaken und Schimmel. Mit Mitte 20 kam ich auf den „Selbstversorgertrip“. Ich wollte unbedingt wissen, wie autonom man im modernen Deutschland leben könnte. Unter anderem lebte ich eine Zeit lang auf einem Biohof in Alleinlage ohne Strom, ohne fließendes Wasser und mit Plumpsklo, in einem Bauwagen mit Holzheizung und schlechter Isolierung. Erst mit 31 Jahren hatte ich meine erste richtige eigene Wohnung – wenn auch mit recht veraltetem Wohnstandard. Mehrmals habe ich Wohnort und Arbeit gewechselt, habe woanders „bei Null wieder angefangen“. Habe mich weder an Menschen, noch an eine Region dauerhaft gebunden. Seit ich 26 bin, lebe ich ganz bewusst auf dem Lande, da ich es dort als sicherer empfinde als in der Stadt. Im Hinterkopf ist der Gedanke „Wenn wieder schlechte Zeiten kommen, ist man hier besser aufgehoben. Man wird wahrscheinlich zu essen haben, und Kampfhandlungen konzentrieren sich eher auf Städte.“ Zudem arbeite ich seit vielen Jahren in landwirtschaftlichen Bereichen – denn Nahrung brauchen die Menschen immer, eine krisenfeste Branche sozusagen. Im Zweifelsfall ist ein Kilo Kartoffeln mehr wert als ein goldener Ring. Ich werde zu essen haben, und das beruhigt mich.

Wenn ich so zurückblicke, denke ich, was mich immer weiter getrieben hat, war die Suche nach „meinem Platz“ im Leben, einem sicheren Platz vor allem. Schon als Kind hatte ich das Gefühl, nicht am rechten Platz zu sein. Das hatte wohl auch sehr mit meinem Elternhaus zu tun. Meine Eltern lebten miteinander im Kriegszustand. Ich litt unter einem Mangel an Sicherheit und Geborgenheit. Aber jetzt denke ich, dass auch die Familiengeschichte Teil der Ursache war.
Wenn mich jemand fragt, wo ich herkomme, so sage ich: „Ich bin in der Heidelberger Gegend geboren und aufgewachsen.“ Aber ich habe nicht das Gefühl von dort zu sein. Obwohl es ja in meiner eigenen Biografie keinen Grund dafür gibt, trage ich tief in mir den Schmerz des Heimatverlustes.
Ein sehr bewegendes Erlebnis war für mich der Besuch in Ostpreußen gemeinsam mit meinen Großeltern, meiner Mutter und meinem Bruder in den 80er Jahren. Endlich Bilder zu den Geschichten zu haben. Gemeinsam mit meinen Großeltern an den Stätten ihres „ersten Lebens“ zu sein. Meine Mutter erinnerte sich ja nicht an viel. Ich habe mich sofort in die Gegend verliebt. Menschen kommen und gehen, das Land bleibt. Es ist tröstlich, dass ich das Land jederzeit besuchen kann, obwohl natürlich die Spuren der deutschen Bevölkerung mehr und mehr verwischen, wie ich bei meinem zweiten Besuch 1999 feststellen konnte. In meiner Wohnung steht seit Jahren eine Schale mit Erde von einer Weide, auf der einst die Kühe meiner Vorfahren grasten.

Vor vier Jahren erlitt ich einen Burnout. Nachdem ich bereits drei Jahre nur noch mit Mühe einigermaßen funktioniert hatte, war es eines Tages so weit, ich war total am Ende und brach zusammen. Von einem Tag auf den anderen war ich eines beträchtlichen Teils meiner Fähigkeiten beraubt. Ich musste Freundinnen und Familie um Hilfe bitten. Selbst mir einen Tee zu bereiten oder ein Telefonat zu führen, gelang mir in manchen Augenblicken nicht mehr. Schnell war mir jedoch klar, dass meine momentane Arbeitsbelastung lediglich das Fass zum Überlaufen gebracht hatte, die tatsächliche Ursache jedoch in der Summe der Belastung in meinem gesamten Leben, seit meiner Kindheit zu suchen war. Leichter war es demnach, Stress zu reduzieren, der in aktuellen äußeren Faktoren begründet lag. Aber wie reduziert man Belastungen, die in einem sind, die aus dem Inneren, aus mir selbst kommen? Diesem inneren Stress auf die Schliche zu kommen hat mich gezwungenermaßen in den letzten vier Jahren stark beschäftigt. Stück für Stück wurde ich fündig, was genau in meinem Leben zu diesem Zusammenbruch geführt hatte. Doch für einen Großteil meiner Ängste, die mich innerlich stressten und mir die Lebenskraft raubten, fand ich keine Erklärung in meiner eigenen Biografie. Heute weiß ich, dass die transgenerational weitergegebenen Lebensängste meiner Mutter und Großmutter einen Großteil davon ausmachen. Beide kenne ich hauptsächlich im Zustand von Stress, Aufregung und Angst. Kein Wunder, dass ich das verinnerlicht habe, wo es mir doch ständig vorgelebt wurde.
Seit ich für meine Ängste eine Erklärung und Ursache gefunden habe, komme ich mehr und mehr zur Ruhe. Mein Leben ist entspannter geworden, meine Lebensqualität hat sich verbessert. Dieses Gefühl, dass es um Leben und Tod geht, dieser wahnsinnige innere Stress verliert mehr und mehr an Kraft.

Die Bücher über Kriegsenkel nahm ich übrigens jetzt zum Anlass einmal nachzurechnen, wie alt genau meine Oma zum Zeitpunkt der Flucht war: genau 38 Jahre und 8 Monate. Als ich meinen Burnout hatte, war ich 38 Jahre und 9 Monate alt. Damals schrieb ich so eine Art Gedicht, um auszudrücken, wie sich dieser Zusammenbruch für mich anfühlt. Es lautete:

ich bin außer mir
mein Haus ist unbewohnbar geworden
ich lebte in einem schönen Heim
und wachte eines Morgens auf
in Trümmern
nun komme ich nicht mehr zurecht
finde nichts mehr wieder
Schutt und Asche überall
es regnet ohne Unterlass

Nun fiel mir dieser Text wieder ein. Ich las ihn nochmal durch, um dann erstaunt zu bemerken, dass dies eigentlich ein Text über den Krieg ist.

Gegen das, was meine Mutter und Großeltern durchgemacht haben, ist so ein Burnout wohl lediglich ein kleiner Schnupfen, trotzdem will ich hier einige Parallelen ziehen. Beides stellt einen äußerst starken Bruch im Leben dar, nach dem nichts mehr so ist wie vorher. Ich habe durch diese Erkrankung einen deutlichen sozialen Abstieg erlebt. Teile meines sozialen Umfelds fielen weg. Einige meiner früheren Fähigkeiten und daher auch Möglichkeiten sind – vorerst – nicht mehr vorhanden. Ich musste für vieles neue Wege finden. Mich zurechtfinden in einer veränderten Welt. Darüber weinen nützt nicht viel. Man muss nach vorne schauen und das Beste daraus machen. Das habe ich von meiner Mutter gelernt. Überhaupt ist mir jetzt klar, welche Kraft auch in meiner Familiengeschichte liegt. Meine Familie hat in ihrem Leben viele Ängste ausgestanden, vielen Gefahren getrotzt. Sie hat immer wieder richtig gehandelt, den richtigen Riecher gehabt und das Leben in die eigene Hand genommen. So ist ihre Geschichte nicht zuletzt auch eine Erfolgsgeschichte. Mich damit auseinanderzusetzen hat mich ein Stück weit näher zu mir selbst gebracht, und das fühlt sich gut an. Vielleicht liegt die Heimat, die ich so verzweifelt suche, letztendlich doch ganz nahe - nämlich in mir.

So wie mir die Berichte anderer Betroffener geholfen haben, hoffe ich, dass der Eine oder Andere durch meine Geschichte eine Bereicherung erfährt.
marjellchen, Januar 2012

 

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Ein Gespräch mit Anna. Heimatlosigkeit in der zweiten Generation
Anna schaut auf den Boden. Dann hebt sie langsam ihren Kopf und schaut mich an. Sie sagt leise: Ich habe ein Buch gelesen. Schon vor einem Jahr. Und jetzt noch einmal. Das gleiche Buch. Es heißt: Kriegsenkel. Und es berührt und verstört mich gleichermaßen. Ich kann die Bedeutung noch nicht wirklich fassen. Es handelt über mich. Irgendwie. Ich befinde mich in einem Zustand der Verwirrung, des Berührtseins und der Nachdenklichkeit. Ihr Blick schweift in die Ferne.

Ja natürlich, ich kann etwas über den Inhalt des Buches sagen, sachlich ist das ganz einfach. Anna richtet sich auf, konzentriert sich, und spricht gefasst: Das Buch handelt über eine Generation in Deutschland, die zwischen 1960 und 1970 geboren wurde und deren Eltern im Zweiten Weltkrieg Kinder waren. Die Elterngeneration nennt die Autorin „Kriegskinder“ und die Kindergeneration, über die das Buch handelt, „Kriegsenkel“. Übertragen lassen sich die dargestellten Phänomene auf jedes Land und jede Zeit – Grundlage ist die Konstellation.

Erst in den letzten Jahren ist deutlich geworden, dass es nicht nur nicht aufgearbeitete traumatische Erlebnisse von Kriegsteilnehmern in jeder Altersklasse gibt, sondern, dass diese oft verschwiegenen, vergessenen, banalisierten Kriegs-, Flüchtlings- und Angst-Erlebnisse gerade von Kindern, eine unbewusste Auswirkung auch auf die folgenden Generationen haben. In Fachkreisen… Ich unterbreche Anna und erinnere sie daran, dass ich gerne auf sie zurückkommen würde, wissen möchte, wie es ihr dabei geht. Anna schluckt. Das sichere Terrain, auf das sie durch die Inhaltsangabe gelangt war, soll sie also wieder verlassen… Ihr Blick verschwindet im Nichts.

Sie schaut mich mit einem fremden Blick an und erläutert leise. Meine Eltern wurden beide im Krieg geboren. Sie sind beide, als sie noch sehr klein waren, vertrieben worden, aus verschiedenen Richtungen. Sie mussten flüchten und ihr Zuhause, ihre Heimat zurücklassen. Beide Väter waren im Krieg, die Mütter haben sich jeweils in die Flüchtlingsströme eingereiht und um ihr Überleben gekämpft – was sie auch irgendwie bis in den Westen Deutschlands geschafft haben. Was sich dabei aber alles zugetragen hat, was meine Großmütter erlebt haben, das weiß ich kaum – außer ein paar vagen Andeutungen. Ihre Männer jedenfalls starben innerhalb der ersten zehn Nachkriegsjahre. Meine Eltern lernten sich zu Beginn der 60er Jahre im Studium kennen. Scheinbar unbeschadet. Und sie wollten alles anders machen.

Anna windet sich, sie ist deutlich verunsichert. (Was irritiert sie so?) Sie schaut an mir vorbei und flüstert. Ich bin in Friedenszeiten aufgewachsen. Ja, ich hatte alles, was ich brauchte. Bildung, ein Zuhause, Reisen, Kultur… Man strebte der Zukunft entgegen. Es steht mir nicht zu, zu klagen – das wäre unfair – ich hatte es doch gut. Trotzdem ist da ein Erbe zu verwalten, dem ich jetzt näher komme.

Wenn ich meine Eltern nach ihrer Kindheit fragte, dann kamen immer souveräne Antworten: dass sich ihre Erlebnisse nicht mit meiner Kindheit vergleichen ließen… dass es ein Abenteuer gewesen sei… dass es eben so war, wie es war… dass man nach vorne schauen wolle und ja jetzt alles anders sei… und nichts weiter. Bei diesen Worten schwang immer eine gewisse Härte mit, eine Distanz und gleichzeitig eine sanfte und weite Verlorenheit.

Ich verstehe: Vergangenheit und Zukunft sollten deutlich voneinander getrennt werden. Sie sollten nicht auseinander hervor gehen. Und die Gegenwart präsentierte sich als Insel, die von einem unbekannten Meer umschlossen wurde.

Anna fährt fort: Wenn ich auf mich schaue, darauf, dass „ich“ mich immer als Fremde fühle - egal wo ich bin! - obgleich ich gut sozialisiert und ausgebildet wurde – also nicht unter Minderwertigkeit leide – werde ich ganz schwach. Mein Selbstbewusstsein ist von meiner Grundstruktur her gut ausgebildet und kaum jemand kann nachvollziehen, dass ich mich oft so unbeholfen fühle. Immer das Gefühl habe, dass ich durchhalten müsse. Dass die Welt nicht auf festen Füssen stehe, sondern tagtäglich umfallen könne… Dass es „vorübergehende Lösungen“ seien, in denen wir uns bewegen, dass es keine Beständigkeit, keine Sicherheit, kein Zuhause gibt. Sondern, dass das Leben ein Überlebenskampf ohne Festpunkt ist.

Ich schaue Anna mit neuen Augen an, diese kleine Frau hat doch schon so viel in ihrem Leben geschafft – und sie ringt mit solch einer Lebensunsicherheit… Das hätte ich nie gedacht. Und, dass ihr Grundlebensgefühl durch ein unbewusstes Kriegstrauma ihrer Eltern, die in diesem Sinne nie eine Kindheit hatten und in eine durchgeschüttelte Welt mit Gefahren und Unsicherheiten geboren wurden, gespeist wird, akzeptiere ich als Möglichkeit sofort.
S. P., die Originalversion findet Ihr unter: www.sophiepannitschka.blogspot.com, 08. Oktober 2011.

 

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Mein Leid

„Ich gratuliere zu diesem Forum, weil ich endlich merke, dass ich nicht allein bin mit diesem unsäglichen Leid. Ich bin 1975 geboren und an einer Depression erkrankt. Ich breche in Tränen aus, wenn ich nur ein paar Bilder aus dem Krieg sehe, ein paar Sätze darüber höre. Und erst seit zwei Jahren ist mir bewusst, was passiert war. Ein Großvater, der seine Kriegstraumata über Jahre einem kleinen Kind auf die blanke Seele schrieb, seine Todesängste, seine Heldenphantasien, sein Durst, im Nachhinein eine Sinngebung zu bekommen, für das unermessliche Leid, das er erlitten und erzeugt hat. Die Großmutter saß daneben und hat mitgemacht, hat sich ebenfalls die Bestätigung geholt für den Sinn dieser Zeit. Von einem 6,7,8,9,10-jährigen. Und sie hatten wohl das Gefühl, dass ihnen das zustand. Und ich weiss jetzt: Das war seelischer Kindsmissbrauch.
Und es tut so unsagbar weh, diese existentiellen Ängste, die sich auf ein Kind übertragen haben, erst jetzt zu entdecken, sie zuzulassen, diesen unsagbaren Schmerz auszuhalten. Vorher lief alles unbewusst ab. Als Jugendlicher versuchte ich sein Leben nachzuspielen, weil er jedem, der nicht im Krieg war, die Existenzberechtigung absprach. Ich lief ständig in 30er Jahre Klamotten herum, wollte eine Wehrmachtsuniform kaufen, nur um den Stoff zu berühren, nur um in Kontakt zu kommen, mit dieser Zeit.
Ich schaffe es bis heute nicht, mir selbst „etwas Gutes“ zu tun, weil er es auch nicht hatte. Weil er mir ein schlechtes Gewissen eingebrannt hat, kein Kriegsleid erlebt zu haben.
Und all das, obwohl eine Generation dazwischen lag. Zu meinem Vater konnte der traumatisierte Großvater direkt nach dem Krieg keine emotionale Beziehung aufbauen. Später, 1975, konnte er das dann offenbar, leider - zu mir und das über Jahre. Bis heute weiß ich nicht, wer ich bin, kann keine Lebensbeziehungen eingehen. Und obwohl ich weiß, dass er „nichts dafür“ konnte – habe ich mittlerweile einen unglaublichen Hass auf ihn, weil mir das die Möglichkeit gibt, ihn aus meinem Leben zu werfen mit seinem Schicksal, für das ich definitiv nicht zuständig bin, für das ich keine Verantwortung mehr übernehmen will. Und wenn ich es in manchen Stunden schaffe, ihm die Verantwortung zurückzugeben, wird das Leben plötzlich so leicht. In der Psychotherapie übe und lerne ich das. Ohne - würde ich heute nicht mehr leben. Hau ab Opa - und mach Dein Ding allein.“
A. E., Juli 2011

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Schönen guten Tag Zusammen

„schon früh hat mich immer wieder das diffuse, ungute Gefühl beschlichen, dass das Thema „Kriegsenkel zu sein“ die Ursache für den schmerzhaften, anstrengenden, holperigen und traurigen Lebensweg sein könnte. Nachdem ich in diesem Forum gelesen habe, sitze ich an meinem Tisch und bin fassungslos, wie wahr dieses Gefühl ist/war.... und auch eine gewisse Erleichterung, eben nicht „meschugge“ zu sein, dass es tausenden Menschen genau so geht! Nicht schön, im Gegenteil, aber doch irgendwie tröstlich.

Ich wurde im Juli 1967 geboren mit einer Zwillingsschwester; darüber hinaus habe ich noch zwei ältere Schwestern, geboren 1963 und 1964. Meine Mutter, geboren 1940 in Schlesien und vertrieben 1945 und mein Vater, geboren 1935 in Stade, sie haben ihren vier Töchtern mindestens 15 Umzüge zugemutet; teilweise wohnten wir nur ein halbes Jahr in irgendeiner Stadt, in der mein Vater einen Job gefunden hatte. Es wurde uns nie erklärt, warum wir denn schon wieder alle Brücken abbrechen, Freunde und Schulkameraden verlassen, lieb gewonnene Orte und Landschaften aufgeben sollen... es wurde einfach umgezogen und basta.

Ich habe dieses unsägliche Muster übernommen...ich bin über dreißig Mal umgezogen. Nun lebe ich schon seit immerhin sieben Jahren in derselben Wohnung, aber das Nomadengefühl verlässt mich einfach nicht und was viel schlimmer ist, die bizarre Sprachlosigkeit zwischen mir und unserer Mutter ist schrecklich. Mittlerweile ist sie siebzig und hat seit geraumer Zeit eine Wahnidee entwickelt, die mich furchtbar aufregt und ratlos und wütend werden lässt. Es dreht sich nur noch alles um Juden, sie erzählt immer nur davon, dass „die Juden wieder nach Deutschland kommen“, dass „alles jüdisch ist“, „die Juden haben das Geld“ usw. dieses antisemitische widerliche Geschwätz einer alten, verbitterten Frau, die sich vom Leben komplett übervorteilt fühlt, macht mich krank.

Von der Familie meiner Mutter weiß ich recht viel; sie stammten aus Schlesien, meine Oma (Mutter meiner Mutter) sprach polnisch... mein Opa war auch ein waschechter Schlesier. Der wurde im Krieg verwundet und ich habe ihn als kleines Kind nur humpelnd mit Krückstock in Erinnerung und später nur noch siechend im großen Federbett liegend, das Riesenkruzifix im Schlafzimmer und Oma, die ihn wortlos pflegte, bis er dann starb. Meine Mutter hatte noch sechs Geschwister, ein kleiner Bruder verstarb auf der Flucht an Typhus. In Auffanglagern waren die Kleinen anderthalb Jahr ohne Eltern, da mein Opa in amerikanischer Kriegsgefangenschaft war und meine Oma wegen Typhus ein dreiviertel Jahr weg war...

Die Familie/das Leben meines Vaters ist mehr oder weniger ein weißer Fleck... wir haben nur Informationen, die kaum greifbar sind, von denen man nicht weiß, was stimmt und was nicht... die eine Schwester meint, Fotos vom Opa (Vater meines Vaters) in schwarzer SS-Uniform gesehen zu haben; die Oma (Mutter unseres Vaters) war angeblich Halbjüdin und wir vermuten, dass die Ehe noch vor Hitlers Machtergreifung geschlossen wurde und somit die Rassengesetze noch nicht existierten; dass aber wiederum in der Zeit des Dritten Reiches unsere Oma bzw. ihre Herkunft wahrscheinlich „verleugnet“ werden musste.
Meinen Vater kenne ich nur als brutalen, aggressiven Rassisten und Antisemiten. Das hat mich schon als Kind furchtbar geängstigt und verwirrt. Er war distanziert, absolut kalt, hasserfüllt und feige. Er hat uns und unsere Mutter regelmäßig verprügelt; und wenn, dann nahm er sehr oft so merkwürdige, perverse Dinge zu Hilfe (ich sage immer Nazimethoden dazu). Er machte Handtücher nass und machte Knoten hinein und „überfiel“ uns dann damit. Es gab auch nie einen Anlass für die Prügel; es war nie nachvollziehbar... er hatte einfach cholerische Anfälle und war völlig hasserfüllt und wie ein wilder Stier.
Ich weiß nicht, was er in der Hitler-/Kriegszeit erlebt/gesehen/beobachtet oder vielleicht sogar getan hat als Bub, oder was ihm angetan wurde... ich weiß nur aus den spärlichen Erzählungen, dass er und seine vielen Geschwister, wenn der Vater abends nach Hause kam, regelmäßig mit dem Gürtel geschlagen wurden; die Mutter raportierte, was die Kinder angestellt hätten und dann kam der Gürtel. Ich hatte immer das Gefühl, dass mein Vater auch komplett indoktriniert ist von der Propaganda damals; dass er tatsächlich an diesen Herrenmenschen-Mist und diesen Rassenwahnsinn glaubt (er hat selber natürlich blaue Augen und ist blond...) Sein paranoides Verhalten und Sich-Abseilen bzw. Verstecken in Australien (geht es noch weiter weg??) sind für mich auch Zeichen von großer Angst, Feigheit und Verleugnung. Er hat den Kontakt zu seinen Töchtern komplett eingestellt; Briefe wurden ungeöffnet zurückgeschickt, keiner geht ans Telefon, der Briefkasten ist zugeklebt…

Ich kann mit meiner Mutter nicht sprechen; sobald Gefühle und Gedanken ins Spiel kommen, wird abgeblockt. Sie war schon immer sehr hart, konnte uns als Kinder oder Teenager nie trösten; wenn wir Leid erlebten oder traurig waren, hieß es immer „Heul nicht. Reiß dich zusammen.“ usw. Diese Ambivalenz zwischen Verständnis, in Schutz nehmen, Mitleid/Mitgefühl und ohnmächtiger Wut und riesenhafter Trauer, dass man das nie bekommen hat als Kind, was man so dringend gebraucht hätte ist schlimm und begleitet mich mein ganzes Leben.
Meine Schwestern und auch ich, wir alle haben mehr oder weniger große psychische Probleme, ich leide seit meinem ganzen Leben an Depressionen und Verlorenheitsgefühlen, unerklärlichen Ängsten, Leeregefühlen, dem Gefühl, nicht dazu zu gehören, dem Gefühl, mir steht nichts zu, ich darf irgendwie nicht glücklich sein und mich wohl fühlen. Auch habe ich immer das Gefühl, ich müsste meine Mutter bespaßen und immer den Entertainer geben; wenn ich zu Besuch bin lege ich alte Platten auf, es gibt ein Glas Wein und meine Mutter tanzt bei weg geschobenen Sesseln im Wohnzimmer... und ich gehe nach Hause und bin leer gesaugt, tieftraurig und brauche zwei Wochen, um mich zu erholen... es beschleicht einen immer das Gefühl der Melancholie, der Traurigkeit, das irgend etwas nicht stimmt. Symptomatischerweise bin ich Single... vielleicht ist es das Unterbewusstsein, was mir sagt, häng dich nicht an einen Menschen, es wird dir eh wieder weggenommen/kaputt gemacht/er geht sowieso weg von dir.... Meine drei Schwestern sind interessanterweise alle „unter der Haube“ und haben Kinder...

Ja, ich fühle mich ausgebremst! Genau das trifft es! In Bezug auf die Frage, wie ich mit meinen Gefühlen umgehe, so ist es meistens das Hin und Her zwischen der Ratio und dem Denken, „Du weißt doch, wo das her kommt; Du brauchst diese alten Verhaltensmuster nicht mehr!“ usw. und dem sich immer wieder aufdrängenden Nichtswertsein-Gefühl; dem „Die Anderen sind wichtiger“ „Nimm dich nicht so wichtig“ „Das steht dir nicht zu!“ - Gefühl. Das „es hat doch sowieso alles keinen Sinn“ - Gefühl.

Was mich auch total wütend macht, ist die Art, wie meine Mutter die Vergangenheit glorifiziert und die Realität einfach umbaut. Sie steht in ihren Memoiren immer wie eine Art Heilige da („wie ich das alles gemacht hab allein mit euch vier Kindern!“), und wie toll das doch letzten Endes für uns war, dass wir so oft umgezogen sind und der Aufenthalt im Ausland...“ „Das prägt einen, ihr habt so viel gelernt; ihr seid einfach anders als andere...“ Teilweise stimmt das ja. Aber was hat man davon, so „anders“ zu sein, wenn man sich nur einsam und nicht dazugehörig fühlt und sein Leben nicht in den Griff zu bekommen scheint?
Im „organisieren“ sind diese Kriegskinder alle toll, das haben sie ja von klein auf gelernt; wo kriegen wir was zu essen her, wie macht man aus fast nichts eine Suppe für 10 Personen, wo kriegt man Brennholz her... aber auf dem Gefühls- und Emotionssektor ist der Gefrierpunkt.

Ich ertappe mich auch immer dabei, wie ich beim Fernsehen schauen immer und immer wieder bei Dokumentationen über Krieg, Hitler, Vertreibung, Holocaust usw. hängen bleibe! Es ist wie ein Sog. Dann schaue ich mir diese Sendungen an und fange jedes Mal bitterlich an zu weinen... es ist wie eine tonnenschwere Last, die auf mir liegt; ich fühle so viel Schuld und Mitleid und Trauer in mir.

Ich habe auch große Angst davor, wenn meine Eltern sterben, wie es dann weitergeht? Ob die ungesagten Dinge weiter in den Hälsen stecken bleiben und die Herzen verhärten und verklumpen... ob dann alles noch schlimmer wird oder ob es vielleicht besser wird..?!

Die körperliche Komponente ist auch interessant; die Mutter hat sehr hohe Cholesterinwerte (das ständige auf der Hut/Flucht sein treibt die Leber an), alle vier Töchter haben ebenfalls hohes Cholesterin. Von den Depressionen und depressiven Verstimmungen, die wir alle vier haben, hatte ich ja bereits gesprochen. Von den ständig hochgezogenen Schultern, dem eingezogenen Hals, dem Zähneknirschen und der allgemeinen Verkrampftheit des Körpers, des sich-nie-richtig-entspannen-könnens mal ganz abgesehen.“
H.M., Januar 2011

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„Die Art meines Zugangs über psychologische Beratung und Therapie erlaubt mir einerseits tiefe Einblicke in Familien ehemaliger Täter oder NS-identifizierter Mitläufer, andererseits haben diese Einblicke auch ihre Grenzen: Stets bedacht sein wollen die geringe Zahl und die jeweils subjektive und nicht konfliktfreie Sicht der Informanten. Diese sind an dieser Stelle geradezu regelhaft die Ausgeschlossenen, die Randfiguren ihrer Familiensysteme. Als außerordentlich typisch habe ich über die Jahre hinweg eine Aufspaltung, eine Polarisierung in diesen Familien erfahren, wonach etwa bei vier Kindern drei ganz auf Seiten der Eltern stehen, das vierte dagegen völliger Außenseiter ist, dies meist von früher Kindheit an. Gegen sie hat sich Gewalt von beiden Elternteilen gerichtet in Form von Vernachlässigung, Misshandlungen, sexuellem Missbrauch, Missachtung, massiven Abwertungen bis hin dazu, sie als verrückt zu erklären. Dies geschieht regelhaft, wenn und weil sie das eherne Schweigegebot in den Familien zu verletzen drohen. Genau das aber ist ihnen eine existenzielle Notwendigkeit, haben sie doch schon als kleine Kinder etwas von der verschwiegenen und verleugneten Gewaltrealität hinter der biederen Fassade gespürt, sind dringend darauf angewiesen, dass diese Wahrnehmungen und Ahnungen mit ihnen geteilt werden, sehen sich ansonsten tatsächlich der Verrücktheit preisgegeben und sind nicht selten als psychiatrisch krank erklärt und in Nervenkliniken eingeliefert worden.
Über die Jahre hinweg habe ich so viele und so erschütternde, dabei von fundamentaler Ehrlichkeit getragene Hilferufe aus diesem Bereich erhalten, dass ich dazu gekommen bin, hier von einer speziellen deutschen Unterwelt zu sprechen. Dies meine ich im doppelten Sinne: einmal mit Blick auf diese Ausgegrenzten, dann aber noch mehr hinsichtlich solcher Familien. Pikant ist dabei, dass es sich des öfteren um Familien gerade aus den „besten Kreisen“ gehandelt hat bis in die Spitzen von Wirtschaft, Industrie, Wissenschaft, Politik und öffentlicher Verwaltung.“
Jürgen Müller-Hohagen, „Übermittlung von Täterhaftigkeit an die nachfolgenden Generationen.“ In: Radebold, H, Bohleber, W, Zinnecker, J (Hrsg.), „Transgenerationale Weitergabe kriegsbelasteter Kindheiten. Interdisziplinäre Studien zur Nachhaltigkeit historischer Erfahrungen über vier Generationen“, Juventa, Weinheim 2008.

 

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Kind kriegsbelasteter Vertriebener

Ich bin 1956 geboren und suche nun seit fast 30 Jahren nach den Gründen für meine Probleme, bzw. nach einer Möglichkeit sie aufzulösen. Seit vielen Jahren frage ich mich, was mit mir los ist und warum ich mein Leben überhaupt nicht auf die Reihe bringe. Ich war drogenabhängig, hatte Bulimie, hatte schwere Depressionen, war medikamentenabhängig, bin völlig bindungsunfähig, finde keinen Platz an dem ich bleiben kann, ziehe immer wieder um, fühle mich immer fremd, kann keine berufliche Tätigkeit ausüben, weil ich es an keinem Arbeitsplatz aushalte. Ich habe verschiedene Studien angefangen und wieder abgebrochen. Erst mit 40 habe ich eine Berufsausbildung abgeschlossen, konnte aber dennoch nicht in dem Beruf arbeiten.

Ich habe zahlreiche Therapien hinter mir.

Ich konnte mich zwar von meiner Drogen- und Medikamentensucht befreien, auch die Bulimie ist kein Thema mehr, doch immer noch lebe ich kein normales Leben. Ich ertrage keine Nähe, habe Probleme mit Gefühlen, ich laufe immer davon (bin immer auf der Flucht) und ich weiß irgendwie nicht wer ich bin.
Letzte Woche fiel mir in unserer örtlichen Bibliothek das Buch „Wir Kinder der Kriegskinder“ in die Hände.

Es traf mich wie ein Schlag.

Einerseits war es wie ein Befreiungsschlag. Endlich endlich weiß ich, was mit mir los ist.

Andererseits war es ein Schock.

Seit ich das Buch gelesen habe, zieht mein ganzes Leben an mir vorbei. Immer wieder fallen mir Situationen mit meinen Eltern ein, die ich nun unter einem anderen Licht sehe. Es ist erschreckend und der Schmerz um das Leid meiner Eltern haut mich fast um.

Meine Eltern waren beide Vertriebene aus dem Sudetenland. Meine Eltern waren keine Kinder mehr, als sie flüchten mussten, sie sind beide Anfang der 20er Jahre geboren, doch auch sie erlebten scheinbar so viel Leid, dass es sie für ihr ganzes Leben geprägt hat. Meine Mutter hat ihr Leben lang nicht darüber geredet. Erst ein paar Wochen vor ihrem Tod erzählte sie mir von ihrer Flucht. Und das auch nur andeutungsweise. Und ich habe nichts verstanden, nichts nachgefragt.

Ich bin aufgewachsen unter einem schweren Mantel des Schmerzes und des Leids und der Sehnsucht nach der Heimat. Doch nie wurde davon auch nur ein Wort ausgesprochen. Der Schmerz lag um uns, aber er wurde nie mit Namen genannt. Nur die Heimat wurde öfters erwähnt. Aber nicht konkret. Ich erinnere mich, dass ich als Kind nicht wusste, was „Sudetenland“ ist und was das zu bedeuten hat. Dieses Wort schwebte in unserer Familie und machte uns zu etwas Besonderem, Andersartigem. Wir lebten irgendwie abgeschirmt von der „normalen“ Welt da draußen. Besuch kam fast nie. Es hieß immer, hier sind wir und dort die anderen. Alles was außerhalb unserer Familie war, war Gefahr. Uns wurde eingetrichtert, jedem Fremden zu misstrauen. Meine Eltern unternahmen nichts, gingen nicht aus, nicht ins Theater oder ins Kino oder zu Freunden. Sie hatten keine Freunde. Unser Leben spielte sich zuhause ab, dort war man sicher.

Aber ich verstand nicht warum das so war. Es wurde nichts erklärt. Das ist das Schlimme.

Ich merke nun, dass ich mein Leben lang versucht habe, in ein Raster zu passen, das von Flucht, Heimatverlust, Schmerz und Angst geprägt war. Ich wusste immer irgendwie, dass ich da nicht hineinpasse, aber es war ja das Raster, das mir meine Eltern vorgegeben hatten. Sie waren die einzige Orientierung die ich hatte. Wie hätte ich wissen können, dass Krieg und Vertreibung die Ursachen für ihr Verhalten und ihre Regeln waren.

Ich bin dankbar, dass ich endlich erfahren durfte, warum ich solche Schwierigkeiten in meinem Leben habe und warum bei uns alles so seltsam war. Ich hoffe, dass ich das alles nun vielleicht doch noch aufarbeiten kann.
A.W., Januar 2011

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Mein Erbe

„Mein Schweigen der ersten 50 Jahre zu brechen ist der Anfang dessen, was ich mutig tun will, um mich aus den Fesseln von Scham, Schuld, Sucht, Leichtsinn, Zerstörungsenergie zu befreien und für mich selbst dieses Erbe zu würdigen, im Geiste eines höheren Ziels, das LIEBE heißt.“
Hans-Reiner, November 2010

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Muttervertreibung

„So klingt es immer wieder in mir:
„Mutter, es war doch eine Vertreibung“!
Noch nie hat sie ungefragt etwas dazu gesagt oder erzählt. Verschlossen sind die Bilder in ihr, sie sperrt sie eine, seit sie 16 ist, und sperrt sich seitdem vom Leben aus.
Was ich damit zu tun habe?
Wenn ich an dieses kleine Bauerndorf in einem Seitental der Ahr denke, so spüre ich, dass mir etwas fehlt. Wie eine Wurzel, die keinen Nährboden findet, die – ausgehend von einem Baum, der am Abgrund steht - in die Tiefe des Abgrunds hinunter wächst, ohne Halt und Nahrung zu finden. Ja, so kenne ich sie, meine beraubte Mutter.
Alles zurück lassen mussten sie:
Herberge, Arbeit, Gewohntes, lieb Gewonnenes, Freunde, Verwandte.
Gerne wüsste ich, womit sie losgezogen sind, meine Großeltern und die zehn Kinder, arm wie Kirchenmäuse, um ihre Heimat und dem wenigen Hab und Gut beraubt, was Großvater durch seiner Hände Arbeit Tag und Nacht geschaffen hatte. Meine Fantasie geht dahin, dass alles auf einen vierrädrigen Leiterwagen passte, alles sorgfältig und achtsam verpackt, fest gezurrt und verrödelt, damit nur nichts verloren gehen oder zerbrechen konnte.
Vor wenigen Jahren ist sie erstmals wieder zurückgekehrt an diesen Ort, ihre verlorene Heimat. Verbittert hat sie ihre Wut auf die ausgedrückt, die damals, vor fast 70 Jahren geblieben sind. „Die hätten sich alle Grundstücke unter den Nagel gerissen…“
Zum ersten mal habe ich damals etwas von dieser Bitterkeit, nein, von der Wurzel ihrer Bitterkeit gespürt und erfahren, was es (unter Anderem) ist, das diese riesige Loch in ihr gerissen hat, das mir immer wieder leibhaftig vor Augen ist, wenn ich sie sehe:
Gesenkter Blick, der mir sagt:
„Bitte hilf mir, Du kannst dieses Loch füllen!“
Nein, Mutter, ich kann es nicht, so sehr ich Dich liebe!“
Hans-Reiner, November 2010

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Horror vacui

„Ich zog für das Studium in eine kleine Substandardwohnung (WC am Gang, Dusche in der Küche - ähnlich wie die Wohnung meiner Urgroßmutter, zu der meine damals gerade verwitwete Großmutter mit ihren drei verbliebenen Kindern gezogen war) und wohnte dort 18 (!) Jahre (die meiste Zeit davon mit meinen damaligen Lebenspartnern), auch als
ich schon längst mein eigenes Geld verdiente, und obwohl ich selbst als Kind einen besseren Wohnstandard gewohnt war. Nachdem mir meine Katze in der kleinen Wohnung leid tat, begann ich mich für eine Übersiedlung zu interessieren….
Schließlich bin ich mit 40 in eine schöne, große und bequeme Wohnung gezogen, die ich darüber hinaus seit fünf Jahren alleine bewohne, und habe noch immer ein schlechtes Gewissen, dass es mir so gut geht - manchmal beschleicht mich deswegen ein Unwohlbefinden (das Gefühl kenne ich auch aus anderen Situationen, wo etwas gut läuft).
Ich kann nicht sagen, ob diese Blockaden ihre Wurzeln in der Kriegszeit haben, oder ob sie ein schichtspezifisches Problem sind. Das betrifft auch das Thema „Raumausnutzung“. Damit meine ich die Einschränkung der Bewegungsfreiheit in einer Wohnung durch die Möblierung, eine Art „Horror vacui“, der das einzelne Körperindividuum eingrenzt und einengt, weil der verfügbare „Platz optimal ausgenutzt werden muss“. Dieses Phänomen ist mir erst vor ein, zwei Jahren bewusst geworden. Es ist übrigens eng verwandt mit der Neigung zum Hamstern, der ich auch immer wieder bewusst gegensteuern muss.“
Elisabeth R., August 2010

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Der lange Weg der Erkenntnis

„Dies ist eine längere Geschichte, unbewusst begann sie bereits vor Jahren, seit Ende 2005 wurde sie jedoch zur Belastung. Ab dieser Zeit hatte ich regelmäßig mit Schwindel zu tun, der mich teils tagelang und phasenweise auch wochenlang lahm legte. Die Ursachenerforschung des Schwindels setzte bei mir eine Odyssee von Arztbesuchen in Gang: Orthopäden, HNO, Neurologen, einschließlich Kernsprinthomografie, eine Gleichgewichtsanalyse sowie eine statische Vermessung der Wirbelsäule und zuletzt noch eine Aufbissschiene.
Im Juni 2008 steigerte sich meine Angst zur ersten Panikattacke. Es folgten weitere Attacken, wobei ich aufgrund von Todesängsten zweimal notfallmäßig im Krankenhaus landete. Danach wurde ich erst von einer Neurologin aufgeklärt, dass ich unter Panik- und Angstattacken leide, worüber ich vorher keine Informationen hatte.
Während einer neunwöchigen intensiven Therapie stellte man fest, dass ich selber keinerlei Erlebnisse hatte, die eine solche Angststörung auslösen könnten. Da hörte ich das erste Mal, dass es sich wohl um eine transgenerationale Weitergabe von Ängsten handeln müsste, da ich selbst Blockaden feststellen konnte, dass ich mich bisher unbewusst weigerte, mich mit den Kriegserlebnissen meiner Eltern auseinander zu setzen. Also erfolgte eine geschichtliche Auseinandersetzung mit meiner Mutter, wo ich erstmals erfuhr, was sie als Kind im 2.Weltkrieg erlebt hatte.
Zu mehr war ich vor 2 Jahren nicht bereit. Es folgte dann ein weiteres halbes Jahr Verhaltenstherapie, um mit meiner Angst im Alltag zurecht zu kommen.
Schließlich hatte ich ein gutes Jahr keine Probleme und habe nahezu alles wieder gemacht, was zwischenzeitlich nicht ging, z.B. Kaufhäuser, Kino, Auto fahren, usw..
Vor ca. 6 Wochen ging dann alles wieder von vorne los, ich konnte das Haus kaum alleine verlassen, hatte eine nahezu unerträgliche innere Unruhe, bekam Herzrasen, weiche Knie und konnte kaum Leute um mich herum ertragen.
Wurde schließlich krank geschrieben, um erst mal zur Ruhe zu kommen. Diese Ruhe sorgte jedoch nicht für Entspannung, sondern die Angst verstärkte sich und wurde in gewisser Weise konkreter, da ich kaum noch äußeren Einflüssen ausgesetzt war. Ich spürte eine permanente Angst es könnte etwas passieren oder es könnte bei mir etwas entdeckt werden, obwohl mir klar war, dass ich nichts verstecke. Dazu kam eine unendliche Traurigkeit, die ich nicht zuordnen konnte. Ich wollte das Haus kaum noch verlassen und nur von meiner Familie umgeben sein.
Irgendwie hatte ich das Gefühl, da ist noch etwas, was meine Mutter mir nicht erzählt hatte. Also, mit etwas Überwindung, habe ich meine Mutter nochmals auf ihre Kindheit angesprochen, aber bei ihr gab es keine weiteren Geheimnisse. Als ich ihr allerdings erzählte, dass ich Angst habe, es könnte etwas entdeckt werden, kam sie gleich auf die Familie meines Vaters. Komischerweise habe ich immer nur zur Familie meiner Mutter geschaut, womit ich einfach falsch lag.
Mein Vater hatte nie über Gefühle oder Ängste gesprochen, da er seine komplett verdrängt haben musste, so dass ich auch nie über seine Kindheit nachgedacht hatte, obwohl es jetzt sehr offensichtlich ist, dass die Ängste von ihm weitergegeben wurden.
Mein Vater hatte einen behinderten Bruder, der in der ganzen Kriegszeit immer wieder versteckt werden musste, so dass mein Vater über Jahre der Anspannung ausgesetzt war, er könnte entdeckt werden. Leider ist mein Vater vor einem Jahr gestorben, so dass ich nicht mehr nachfragen kann, wie und wo mein Onkel versteckt wurde und was es für ihn bedeutete. Er hatte auch mit meiner Mutter nie darüber gesprochen, es wurde nur so nebenbei erwähnt, dass mein Onkel irgendwie immer mitlief, aber welche Ängste damit verbunden waren, hatte niemand erwähnt.
Auf jeden Fall bin ich froh, dass sich meine Ängste nun etwas besser erklären lassen und es mir auf die Dauer hoffentlich leichter fallen wird, mit den „fremden“ Ängsten zu leben.“
Karla, August 2010 (geb. 1965)

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„Man hat noch nicht über die Anthropologie der deutschen Nachkriegsgesellschaft nachgedacht. Aber wer sie zu beschreiben versuchte, der müsste von der massenhaften Elementarerfahrung von Obdachlosigkeit und Flucht ausgehen. Ist sie nicht einbetoniert in der sichtbaren Oberfläche dieser Gesellschaft? In den Hunderttausenden Eigenheimen, in ihrer peniblen Reinlichkeit, ihrer heimatlosen, frostig anmutenden Gleichförmigkeit und ihrer überheizten Wohnzimmern? In den Fußgängerzonen und Einkaufszentren, in der geschrubbten Ordentlichkeit, Befestigtkeit und Solidität der Lebensumstände? (…) Das Gefühl für die Heimat stand, jedenfalls in den Dichtungen der Menschheit, immer neben der Erinnerung an Flucht und Entwurzelung. Warum sollte das ausgerechnet heute anders sein?“ Gustav Seibt: „Jenseits des Aufrechnens. Die Deutschen, der Luftkrieg und die Vertreibung“, Süddeutsche Zeitung 2007; Zitat in: Andreas Krosssert: „Kalte Heimat“, S. 14

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Birgit Weidt im Gespräch mit Sabine Bode, Autorin des Buches „Kriegsenkel – die Erben der vergessenen Generation“, Klett-Cotta, 2009

Inwiefern übertrug sich die nicht aufgearbeitete Vergangenheit der Eltern auf die Kinder?

Bode: Das lief nicht bewusst ab und deshalb muss deutlich werden, dass es bei diesem Thema auch nicht um Schuld oder um Beschuldigung geht. Die von mir befragten Kriegsenkel leiden durchweg an einem Mangel an Emotionalität von Seiten der Mutter und/oder des Vaters. Der Satz, den ich immer wieder hörte, lautete: Ich kann meine Eltern emotional nicht erreichen.’ Auffällig häufig war von Müttern die Rede, die wenig körperliche Nähe zulassen konnten. Diese haben es selbst nie erfahren. Sie wussten nicht, was es heißt, getröstet zu werden, denn sie waren von ihren eigenen Eltern mit ihren Ängsten und Nöten im Krieg alleingelassen worden. Das übertrugen sie später auf ihre Kinder, denn, selbst Eltern geworden, empfanden sie es wohl so, dass all die normalen Probleme von Kindheit und Pubertät doch nichts gegen die Schrecken waren, die sie einst selbst erlebt hatten. Aber man muss sich klar machen: Den meisten Eltern war überhaupt nicht bewusst, dass sie diese Nachwirkungen des Krieges in sich trugen. Das Besondere bei den Kriegskindern ist ja: Hier handelt es sich um eine große Gruppe von Menschen, die in der Kindheit verheerende Erfahrungen machte, aber über Jahrzehnte in der Mehrzahl eben nicht das Gefühl hatte, etwas besonders Schlimmes erlebt zu haben. Denn es fehlte ihnen der emotionale Zugang zu diesen Erfahrungen und damit auch der Zugang zu den wichtigsten Prägungen. Dennoch wurden sie davon gesteuert.

Was wäre Ihre Botschaft an die Kriegsenkel?

Bode: Es müsste das Ziel sein, die eigenen Eltern besser zu verstehen und sich gleichzeitig auch endlich von ihnen abgrenzen zu können. Im Prinzip geht es darum, zwischen unguter Fürsorge und angemessener Unterstützung zu unterschieden. Die Kriegsenkel sollten sich nicht länger darum bemühen, ihre Eltern emotional zu erreichen, sondern die Beziehung so zu akzeptieren wie sie ist. Ich glaube nicht, dass solche Eltern sich nach mehr Nähe sehnen. Stattdessen ist es für die Kriegsenkel Zeit, sich selbst wesentliche Fragen zu stellen: Will ich beruflich noch einmal Gas geben? Will ich noch eine Familie gründen? Das setzt voraus, dass man sich gedanklich von den Eltern lösen kann, dass es nicht länger solch einen Unruhefaktor im Leben gibt, unter dem Motto: Ich muss die Mutter wieder anrufen, oder hoffentlich war der Vater beim Arzt, er sorgt so schlecht für sich. Es ist wichtig, sich so etwas bewusst zu machen. Es ist ein großer Unterschied, ob man etwas automatisch tut, weil es eben immer schon so war, oder ob man sich altersgerecht abgrenzt, indem man bei sich wahrnimmt: Es ist eine Belastung, wenn man die Eltern beeltern muss. Es geht auch darum herauszufinden: Kann ich eigentlich selbst gut für mich sorgen? Oder komme ich zu kurz, weil diese Dinge mir die Kraft absaugen, die ich eigentlich brauche, um in meinem eigenen Leben anzukommen und es zu gestalten.

In Ihrem Buch schreiben Sie, dass Kriegsenkel von einem sekundären
Trauma geprägt sind. Worin äußert es sich?

Bode: Ein Teil der Fachwelt spricht von einem, sekundären Trauma’, der andere Teil meidet in diesem Zusammenhang den Begriff Trauma und spricht von Menschen mit Bindungsstörungen, oder abgeschwächt von solchen, die unsicher gebunden sind. Eine Auffälligkeit in dieser Generation sind also gewisse Bindungsprobleme. Viele Kriegsenkel sagen: ‚Ich habe keinen Boden unter den Füßen, und ich kann es nicht aushalten, wenn mir ein anderer Mensch zu nahe kommt.’ Unsicher gebunden zu sein heißt, wenig Halt zu haben und übermäßig misstrauisch zu sein. Das belastet enge Beziehungen, denn die Fähigkeit zu vertrauen ist ja eine zentrale Voraussetzung für eine gute Beziehung. Viele Kriegsenkel leben also die unverarbeiteten Ängste der Eltern in verdünnter Konsistenz weiter. Stellen Sie sich eine Frau vor, die als Dreijährige monatelang mit Mutter und Großmutter auf der Flucht war. Natürlich kann sie sich als Erwachsene kaum daran erinnern. Sie sah sich nicht als Kriegskind, sondern als Nachkriegskind. In den Biografien meines Buchs taucht zu 80 Prozent im persönlichen Hintergrund Flucht und Vertreibung auf. Den Kindern der Flucht wurde nach gesagt: Vergiss alles und schau nach vorn. Also wurde verdrängt, so gut es ging. 14 Millionen Menschen verloren nach dem Krieg ihre Heimat. Sie versuchten sich mit dem Gedanken zu trösten: Wenn es materiell aufwärts geht, wenn die Kinder gute Schulnoten heimbringen, dann ist das Schlimmste überstanden. Doch bei den meisten Menschen, die als Erwachsene vertrieben wurden, blieb lebenslang ein Schmerz. Sie empfanden die neue Umgebung als Exil. Auch das mussten deren Kinder, die Kriegskinder, verkraften.

 

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„Kinder merken enorm viel. Aber wenn dieses Wissen im Untergrund bleiben muss..., dann bewegt sich dieser Mensch auf den dunklen Schienen eines unerkannten Wiederholungszwangs durch sein Leben“. Jürgen Müller-Hohagen, „Geschichte in uns“, S. 21

 

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Meine Wohnung

„Meine Wohnung ist mir heilig. Sie ist ein Ort der Zuflucht, der Ruhe und Geborgenheit. Wenn ich am Fenster meines Zimmers stehe, schaue ich nach Osten in einen Garten mit Blumen und Efeu an der Wand. Dort tummeln sich Vögel, mit denen ich oft stumme Dialoge führe. Gehe ich durch mein Zimmer und meine kleine Diele in die Küche hinüber, dann schaue ich in einen typischen Berliner Hinterhof nach Westen.
Ich liebe meine Wohnung. Aber das war ein langer Weg dorthin. Denn 1991 bin ich als Zwanzigjährige nach meinem Abitur in Essen mit nur zwei Koffern und völlig unvorbereitet nach Berlin gezogen. Dort habe ich dann in den kommenden 12 Jahren eine wahre Zimmer- und Wohnungs-Odyssee zelebriert: Studentenwohnheime, WG-Zimmer, plötzliche Umzüge in andere WGs, unzählige Umzüge in Wohnungen auf Zeit und zur Untermiete, mit fremden Möbeln, schlechten Gerüchen, unangenehmen und angenehmen Mitbewohnern und dann wieder: Knall auf Fall umziehen, das schnellstmögliche nehmen, aus Angst, ich finde nichts besseres.
Dann kam das Erlebnis mit den Mäusen, die ich in einer Wohnung entdeckt hatte. Nachts bin ich in panischer Angst vor den Tieren zu Freunden gezogen. Ich konnte die Wohnung nur noch vor Angst erstarrt betreten, fluchtartiger Auszug in eine neue Wohnung, nun jedoch das erste Mal als richtige Hauptmieterin mit einer kleinen zusammen gebastelten und improvisierten Einrichtung (Hauptsache: ich komme schnell weg). Dort, in die 27 qm-Wohnung, zog dann jedoch gleich mein damaliger Freund halb mit ein, drei Jahre wohnten wir dort auf engstem Raum zusammen. Er war Mazedonier und ich überlegte schon, ob wir die Familie von ihm in meiner Wohnung aufnehmen sollten, wenn der damalige Jugoslawien-Krieg auch auf Mazedonien übergreifen würde. Dazu kam es dann aber nicht.
Bevor ich in meine jetzige Wohnung zog, brach man in meine alte ein und verwüstete teilweise meine Einrichtung. Fluchtartiger Auszug, Panik vor der Wohnung, in der ich mittlerweile so lange gelebt hatte.
Doch dann fand ich endlich mein Zuhause, meine jetzige Wohnung. Und in den letzten Jahren ging mir auf, was das alles so auf sich hat. Denn meine Familie mütterlicherseits musste aus Polen flüchten. Über Nacht und völlig unvorbereitet. Das einzige, was meine Oma mitnehmen konnte war eine kleine Keksdose. Sie steht nun bei mir auf der Kommode. Meine Mutter war bei der Flucht 9 Jahre alt. Ich bin davon überzeugt, dass sich dieses Fluchterlebniss in mir einprägte, ohne dass ich es wusste. Meine Mutter sagt bis heute, sie habe das alles sehr gut verkraftet, es sei eher wie ein Abenteuer gewesen, aber irgendwie scheint das vielleicht tief in ihr drin sitzende Trauma auf mich übergegangen zu sein. Und ich habe jahrelang diesen Schrecken reinszeniert, ohne mir darüber bewusst zu sein.
Seitdem ich um diesen Zusammenhang weiß, kann ich anders mit dieser Wohnungshetze umgehen. Nicht mit Selbstvorwürfen, so chaotisch und unzumutbar zu sein, sondern mit Verständnis. Ich habe immer noch Ängste, meine jetzige Wohnung verlieren zu müssen. Ich lag zum Beispiel vor einigen Wochen nachts in meinem Bett und konnte nicht schlafen, weil meine Nachbarn über mir Krach machten. Voller Angst habe ich gedacht, dass ich nun, wenn das so weitergeht, wieder eine neue Wohnung suchen muss und alles aufgeben muss. Aber dann wurde mir der Ursprung dieser Gedanken wieder klar und ich konnte nur fassungslos den Kopf schütteln. Ich hoffe, dass sich das Gefühl etabliert, ein absolutes Wohnrecht zu besitzen und dass keiner mir meine Wohnung wegnehmen kann. Wenn ich diese Stärke spüren lerne, dann fühle ich mich auch nicht mehr so ausgeliefert. Ich bin da noch nicht angekommen, aber auf dem Weg dorthin.“
Anja F., Januar 2010


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„In der Forschung ist längst bekannt, dass traumatische oder belastende Erfahrungen, wenn sie nicht aufgearbeitet wurden, an die nächste Generation übertragen werden können – man nennt diesen Prozess "transgenerationale Weitergabe".

Wir sind eine Generation, deren Lebensgefühl geprägt ist von emotionalen Erfahrungen, die gut 60 Jahre zurückreichen: die Heimatlosigkeit, das Gefühl, sich nirgends verwurzeln zu können, die eingeimpfte Existenzangst, Bindungsschwierigkeiten, Identitätsverwirrungen und vor allem das Gefühl, bei den Eltern etwas wieder gutmachen zu müssen ...all das sind oft Folgen der elterlichen Kriegs-, Flucht- und Vertreibungserfahrung.

"Meine Eltern und ich, wir kennen uns eigentlich kaum" – das ist ein Satz, den ich im Zuge der Recherche zu diesem Buch immer wieder hörte. Ein Gefühl der Fremdheit scheint die Beziehung vieler 1955-1975 Geborenen zu ihren Eltern, den Kriegskindern, zu charakterisieren.“
Anne-Ev Ustorf, „Wir Kinder der Kriegskinder. Die Generation im Schatten des Zweiten Weltkriegs“, Freiburg im Breisgau: Herder, 2008.

 

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„Eine Zeit der gemeinsamen Trauer hat bei uns in der Familie nie stattgefunden.“
Annette S., Dezember 2009

 

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Über Loyalität: „Die Verpflichtung, die Schuld, entsteht doch häufig da, wo Mißtrauen war, Ausbeutung, Verlassenheit. Das Kind schont und stützt seine Eltern ein Leben lang, wo sie versagt haben, weil es dort nicht frei werden konnte.“ Frau G., Jürgen Müller-Hohagen, „Geschichte in uns“, S. 49

 

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Ich bin gestört worden

„Manchmal ist die deutsche Sprache faszinierend: In ihrer Klarheit und in ihrer deutlichen Bildsprache ließ sie mich schon manche Erkenntnisse haben – manchmal sollte man sie aber auch korrigieren. So zum Beispiel dies: Ich habe manchmal das Gefühl, ich bin gestört, weil ich so viele Macken und Ticks habe und manchmal nicht weiß, was das alles soll, warum ich die habe. Seit längerer Zeit beschäftige ich mich dem 2. Weltkrieg, schließlich mit meinen Eltern, die als Kinder unzählige Bombennächte miterlebt haben, nächtelang Todesängste durchlebten - und dann nach dem Krieg taten, als ob alles vergessen werden kann, was erlebt wurde. Ich, 1962 in einer süddeutschen Kleinstadt geboren und aufgewachsen, habe dieses Muster komplett übernommen: Über diese Themen geschwiegen, sie als unwichtig, nichtig abgetan, wer sich damit beschäftigt, habe ich immer gedacht, der hat doch ein Problem, der ist depressiv oder ein „Gut-Mensch“ – lasst doch endlich die Vergangenheit ruhen! So, wie meine Eltern es taten: Nach Außen soll alles Top aussehen, Hauptsache, die Fassade stimmt. Und was dahinter passiert, das ist Privatsache, das sind private Probleme. Meine Fassade bröckelte dann, eben weil ich merkte, wie gestört ich in manchen Dingen bin: Beziehungsunfähig, Eigenbrödler, der keine Nähe zulassen kann, depressive Rückzugstendenzen, Schreckhaftigkeit oder in der Nacht aufwachen und Angst bekommen, aber nicht zu wissen, wovor. Doch auch ich habe das alles immer runtergespielt, das ist doch nichts, ich darf doch nicht klagen, ich habe doch noch nie etwas wirklich Schlimmes erlebt. Und es spuken die Sprüche durch den Kopf wie: „Was mich nicht umbringt, macht mich stark!“ Aber jetzt denke ich: Die Fassade hat bei meinen Eltern zwar perfekt funktioniert (Arbeit, Haus, Garten, gepflegte Kleidung) aber dahinter, in der Psyche, sah es dunkel und leer aus. Und dadurch bin nämlich nicht ich gestört, sondern ich wurde gestört, und zwar in meiner psychischen Entwicklung. Dadurch, dass ich zwar körperlich gut versorgt wurde, aber psychisch vernachlässigt, wurde ich gestört und konnte viele Dinge, so zum Beispiel Vertrauen in mein Handeln, Selbstgefühl oder auch Vertrauen in meine Umgebung und in andere Menschen, nicht entwickeln. Anders nämlich als "Ich bin gestört", was ja immer heisst, ich bin gestört im Inneren, ich bin es aus mir selbst heraus, heisst: "Ich bin gestört worden", dass nicht ich die Ursache der Gestörtheit bin, sondern sie von außen kommt und die ich angenommen habe/nicht anders konnte als sie annehmen. So verortet bekommt dieser Begriff endlich seine richtige Bestimmung.“
Uwe K., September 2009


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Reich mir die Hand, mein Leben